Höllisches Paradies
Als Eva, geschaffen aus der Rippe Adams, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis aß, wurde der Mensch aus dem Paradies vertrieben. Gleich der Beginn der (westlichen) Schöpfungsgeschichte ist also reine Misogynie, die Grundlage von über zweitausend Jahren Patriarchat. Den Apfel, den Harper (Jessy Buckley, „Frau im Dunkeln“) bei ihrer Ankunft in einem idyllischen britischen Landhaus von einem Baum im Garten pflückt, in das sie sich für zwei Wochen eingemietet hat, hat hingegen keinen Rauswurf zur Folge. Er ist lediglich ein Vorbote.
Mit den Worten „Hatten sie eine höllische Fahrt?“ wird sie von Geoffrey (Rory Kinnear), dem Verwalter des Anwesens, begrüßt. Den Witz mit der „verbotenen Frucht“ kann er sich ebenfalls nicht verkneifen, begleitet von einem zahnreichen Grinsen. Die ersten Minuten von Alex Garlands „Men“ sind ein hochgradig bizarres Szenario, das das Stadtkind Harper gegenüber ihrer Freundin Riley (Gayle Rankin) auf Facetime „provinziell“ nennt.
Willkommen im pastoralen England, wo die Einheimischen ihre Spleens abseits der britischen Zivilisation kultiviert haben; fast könnte man sich in einer Komödie von Edgar Wright wähnen. Doch Garland, der in den Science-Fiction-Filmen „Ex Machina“ und „Auslöschung“, und zuletzt auch mit der Serie „Devs“ durchaus seine Affinität für die Natur bewiesen hat – als metaphorisches Korrektiv der rationalen Wissenschaft –, verfolgt ein anderes Motiv als das einer kuriosen Britishness.
Garland, vor über zwanzig Jahren bekannt geworden mit seinem Roman „The Beach“, den Danny Boyle dann mit Leonardo di Caprio überaus erfolgreich verfilmte, hat sich als Regisseur als ausgewiesener Spezialist für philosophisches Genrekino profiliert. Er besitzt sowohl ein ausgezeichnetes ästhetisches Verständnis für world building und versteht gleichzeitig, dass die menschlichen Urängste sich irgendwo im technologischen Fortschritt doppeln: ohne Trauma – dazu braucht es nicht erst den Verstoß im Paradies – keine höhere Erkenntnis.
Blick in schreckgeweitete Augen, im Moment des Todes
Auch Harper schleppt ein Trauma an diesen paradiesischen Ort ein. Sie hat den Tod ihres Ehemanns James (Paapa Essiedu) mitangesehen, den Blick in seine schreckgeweiteten Augen im Moment des Todes kann sie nicht vergessen. Die Rückblenden zu dem Augenblick, an dem ihr Leben eine Wendung nimmt, bestehen zunächst nur aus elliptischen Andeutungen.
Doch je weiter „Men“ zum Auslöser des Unfalls zurückkehrt, desto deutlicher macht Garland, der auch das Drehbuch geschrieben hat, dass sich ihr Schmerz nicht nur aus Schuldgefühlen, sondern vor allem aus Wut speist. Harper hat ungewollt eine Prophezeiung von James erfüllt: Wenn sie sich von ihm scheiden lässt, würde er sich das Leben nehmen. Die Blicke, die sich in Zeitlupe durch die Fensterscheibe ihres Londoner Apartments treffen, verfolgen Harper über seinen Tod hinaus.
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Und Garland lässt sein Publikum nicht lange warten. „Men“ ist in seiner Dramatik viel konkreter und damit stringenter als die Vorgängerfilme. Das absurd saturierte Grün der Wiesen und Wälder, durch die Harper ihren ersten Spaziergang macht, wirk geradezu hyperrealistisch, ebenso wie ihre Rufe in einen verlassenen Tunnel, an deren Wände das Echo zu einem paganistischen Klagegesang anschwillt. Bis am Ende des Tunnels eine schemenhafte Gestalt aus dem Nichts auftaucht und mit einem unmenschlichen Schrei auf sie zuläuft. Auf ihrer Flucht begegnet Harper vor einer Ruine noch einem nackten, offensichtlich verwirrten Mann, der kurze Zeit später bei ihr im Garten steht – bis die Polizei ihn abholt.
Kammerspiel unter Lockdown-Bedingungen
Das Pastorale der Natur, das in „Ex Machina“, „Auslöschung“ und „Devs“ noch das Außen einer hochtechnisierten Welt verfasst, schließt in „Men“ gewissermaßen das Trauma ein. Es macht Garlands Film hermetischer, was wohl auch dem Umstand geschuldet ist, dass „Men“ unter Lockdown-Bedingungen gedreht wurde. Das Kammerspielhafte, das alle seine Filme gemeinsam haben, wird ins Klaustrophobische überhöht, sodass Harper gar nicht zu bemerken scheint, wie alle Blicke nur sie taxieren. Der Verwalter Geoffrey, der Problemjugendliche vor der Kirche, der örtliche Vikar, der Dorfpolizist, der nackte Mann im Garten – sie alle haben das Gesicht von Rory Kinnear.
Die Reaktionen der Männer um sie herum sind jovial-herablassend bis aggressiv-herabwürdigend: ein Echo ihrer manipulativen Beziehung mit James – zumindest den wenigen Minuten nach zu urteilen, die „Men“ Einblicke in Harpers Vorgeschichte gewährt. Garland gibt nicht genug von dieser Beziehung preis, um seine Allegorie mit etwas Substanziellem zu unterfüttern. Außer eben, dass alle Männer gleich und offenbar auch gleich schlecht sind.
(In zwölf Berliner Kinos (auch OmU), OV: Rollberg, UCI Luxe Mercedes-Platz)
Die Bizarrerie, in die Garlands folkloristischer Horror langsam entgleitet, gibt seinem programmatischen Filmtitel eine bunte Schattierung von Zwischentönen, in denen die feministische Fundamentalkritik nur eine von vielen möglichen Lesarten wäre. Ein anderer Unterton könnte zum Beispiel ein entschieden ratloses Achselzucken sein. (Etwa: „Männer…“) Immerhin haben Buckley, die ihrer geschichtslosen Figur eine resolute Präsenz in der Gegenwart verleiht, und Kinnear, der in immer groteskeren Verkleidungen chargiert (am unheimlichsten als digital verjüngter Jugendlicher, bestes „uncanny valley“), ihren Spaß.
Garlands bukolischer Folk Horror – das komplette Gegenteil zu seinen philosophischen Tech-Dramen – nimmt einen interessanten Umweg über allerlei mystizistische und heidnische Motive, zu denen unter anderem eine Steinfigur der mysteriösen Sheela na gig gehört: einer Art Dämonin mit expressiver Vulva, die auf mittelalterlichen Kirchen und Gebäuden in ganz Europa zu finden ist. Doch Fruchtbarkeit scheint bei Garland eher ein Fluch zu sein, versucht man seinen surrealen Showdown zu interpretieren. Am Ende weiß man gar nicht mehr, wohin man vor lauter Rory Kinnears überhaupt noch gucken soll.