Stimmen hören und protokollieren

Viele Berufe haben einen Schutzpatron, der Autor hat wohl keinen. Und wenn doch, dann muss es einer mit unverkennbarem Hang zur seelischen Grausamkeit sein. Er hätte Hanns-Josef Ortheils Leben erfinden können, kein gewöhnlicher Autor hätte das gedurft.

Der Anfang? Stumm, vollkommen stumm. So wie dieser Sprachverweigerer es war, bis zu seinem siebten Lebensjahr. Wer das Sagenkönnen für etwas ganz Selbstverständliches hält, ist kein Autor.

Bloß nicht die Umwelt durch Mitteilsamkeit belästigen

Doch sollte es sich bei dem frühen konsequenten Schweigen nicht um bloße Behinderung handeln. Bis er drei Jahre alt wurde, gab schließlich auch der spätere Erfolgsautor Hanns-Josef Ortheil, einer der produktivsten, beredtesten dieses Landes, dem angeborenen Drang unserer Gattung nach, die Umwelt durch eigene Mitteilsamkeit zu belästigen: um erst dann vollkommen still zu werden. Das war 1954.

Still, wie seine Mutter es war, die zuvor vier Söhne verloren und dieser Welt nichts mehr zu sagen hatte. Vielleicht wollte sie auch das Schicksal nicht durch Geschwätzigkeit provozieren.

Die Mutter-Sohn-Symbiose war also stumm, doch zählt ein Zwei-Mann-Trappistenkloster mitunter zu den tiefsten Existenzformen überhaupt. Sehr wichtige Erfahrung dabei für jeden Autor: Offenheit für symbiotische Verhältnisse und das Wissen darum, wann das Reden wieder aufhört.

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Die höchsten und die tiefsten Augenblicke des Daseins sind stumm. Man könnte auch sagen: Sprache findet ihre Erfüllung im Schweigen! Solcherart Sinn für das Paradoxe, darin für das Metaphysische, darf zur Grundausstattung jedes Fortgeschrittenen zählen. Nur muss all das kaum einer am eigenen Leibe lernen.

Hanns-Josef Ortheils Vorteil: Er brauchte später nur noch aufschreiben, was er schon gelebt hatte. Das „nur“ beinhaltet hierbei alle Kunst des Zur-Sprache-Erwachten. Sein erfolgreichster Roman „Die Erfindung des Lebens“ aus dem Jahr 2009 handelt genau davon, so wie schon zuvor „Hecke“ (1983) und „Das Kind, das nicht fragte“ (2012), „Der Stift und das Papier“ (2015) und noch einige andere.

Eigentlich wollte er Pianist werden

Für manche wäre das bereits ein ganzes Lebenswerk, im Falle Ortheils ist es ein Bruchteil. Es ist, als verfolge ihn das permanente Erschrecken, welche Welt ihm um Haaresbreite verschlossen geblieben wäre. Sachbücher und historische Romane kommen hinzu, oft spielen sie in Italien wie „Faustinas Küsse“ (1998) oder „Im Licht der Lagune“ (1999). In Rom war der junge Ortheil einmal Organist an der Kirche Santa Maria dell’Anima, denn nicht Schriftsteller, sondern Pianist wollte er werden.

Eine Sprache verdankt er doch seiner Mutter, die der Töne, wovon er vor drei Jahren in seinem Buch „Wie ich Klavierspielen lernte“ erzählt hat. Aber wiederkehrende Sehnenscheidenentzündungen verhinderten den Pianisten Ortheil, worauf er seine Zuflucht zur Behelfssprache der Worte nahm.

Stift und Papier, dann beginnt die Trance

Schreiben ist nach Ortheil ganz einfach: Man wählt Stift und Papier, und schon fängt das an, was dieser Autor im Ton größter Selbstverständlichkeit „die Trance“ nennt. Heißt: Er ist nur Protokollant, er muss nur auf die diktierenden Stimmen in seinem Kopf hören.

Das Stimmen-Hören gehört in seinem Fall zum Berufsbild. Schwer zu sagen, was seine Creative-Writing-Studenten an der Universität Hildesheim davon halten, denn hauptsächlich ist er Hochschullehrer. Seine Romane entstehen gewissermaßen nach Feierabend.

Schreiben lernen in der Jagdhütte

Vielleicht erklärt sich das Schreib-Trance-Wunder Ortheil durch seinen Vater: Als der Junge mit fast neun Jahren wegen „Bildungsunfähigkeit“ endgültig der Schule verwiesen werden sollte, fuhr der Vater mit seinem Sohn in eine einsame Jagdhütte im Westerwald. Schreiben lernen! Und es geschah: Mit Stift und Papier öffnete sich dem Jungen eine Welt. Und das blieb so, mit jedem neuen Buch, sogar bei den Blogs, die er seit einigen Jahren ins Netz stellt.

Bis zu jenem Routine-Besuch beim Arzt 2019. Ihm fehlte fast nichts, aber der Mediziner sprach sinngemäß: Wenn wir nicht sofort operieren, sind Sie in zehn Tagen tot! Die Operation dauerte fünf Stunden, danach fiel Ortheil ins Koma.

Aus dem Koma erwachend, forderte er nach Art der Autoren als erstes Stift und Papier. Aber das, was er schrieb, konnte er selbst nicht lesen. Sehr langsame Rückkehr ins Leben, sehr langsame Rückkehr ins Schreiben. Davon handelt „Ombra“, sein jüngster Roman, fast ein Tagebuch der Rekonvaleszenz. Heute wird Hanns-Josef Ortheil 70 Jahre alt.