Das Leonkoro Quartett debütiert in Berlin: Sternstunde in Lackschuhen
Es ist eine leider verbreitete Legende: Sogenannte klassische Musik sei eine Art „Gefühls-Schnuller“ – ein Wellness-Treatment, das beruhigt und entspannt. Viele Rundfunkmacher denken so, auch etliche Berliner Taxifahrer. Goethe, zu seiner Zeit, machte, obgleich an sich unmusikalisch veranlagt, ganz andere Erfahrungen. Er schlief nicht ein, als er Musik von Beethoven hörte, er regte sich auf. Und umschrieb das, was in einem Streichquartett passiert, im Sinne der Aufklärung als ein rationales Gespräch: „Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen“.
Dieses unter Quartettliebhabern gern zitierte Goethe-Wort von 1829 stand am Dienstagabend wieder greifbar im Raum, als das Leonkoro Quartett das Podium des Kammermusiksaals betrat, um sein Debut in der Berliner Philharmonie abzuliefern. Was sofort auffällt: Alle vier tragen plötzlich blitzblanke, rabenschwarze Lackschuhe, teils flach, teils Highheels. Das haben sie bis dato noch nicht getan.
Aber erstens sind sie noch viel zu jung, um „vernünftig“ zu sein – vorgestern noch Studenten, haben sie eben erst im Januar an der Musikhochschule in Lübeck ihren Master gemacht. Zweitens beginnt jetzt das gemeinsame Profileben. Schon eilt ihnen ein großer Ruf voraus. Das muss gefeiert werden.
Zuerst in blitzblankem C-Dur, mit einem Vogelruf in der ersten Violine. Ein angetrillertes Tzi-tzi-bä: Diesen Spaß hat sich der mittlere Joseph Haydn im Kopfsatz seines Quartetts op.33,3 erlaubt. Doch das Thema wird alsbald von Generalpausen durchlöchert und in harmonisch entfernte Weiten verlegt, die Durchführung ist ein bizarrer Ausflug ins Unbekannte. Auch das folgende, gedämpfte Scherzo gibt Rätsel auf – superleise, kompromißlos durchsichtig tönt diese Lesart der Leonkoros, im Finalsatz atemraubend fix.
Der junge Wolfgang Rihm
Folgt etwas extrem Gehörntes, Zerklüftetes, Zeichenhaftes: Der Quartettsatz Nr.9, komponiert 1993 vom jungen Wolfgang Rihm. Diese Musik ist wie Doktor Doolittles „Stoß-mich-Zieh-dich“ ein Zusammengesetztes aus Widersprüchen, aus Abstoßung und Anziehung. Was immer das Quartettspiel von Instrumenten gleicher Spielweise und Machart, aber verschiedenster Farbe und Tonhöhe, im Innersten ausmacht, hier wird es mit Leben gefüllt. Und wie lupenrein und meisterhaft gespielt!
Sagenhaft ist die risikobewußte Kraft der Intensität, die das Leonkoro Quartett beseelt. Unfassbar selbstverständlich seine Virtuosität und kaum zu begreifen der profunde Musikverstand, der die beiden Brüder (Jonathan Schwarz, Violine und Lukas Schwarz, Violoncello) mit ihren Kolleginnen Amelie Wallner (Violine) und Mayu Konoe (Viola) eint. Wie können so junge Menschen schon so weise sein?
Zum romantischen Höhepunkt des Abends gerät ihnen dann Robert Schumanns bratschensoloreiches A-Dur-Quartett. Dieses Wunderwerk zu beschreiben, ist hier nicht der Platz. Doch jeder kann es sich selbst anhören. Die Leonkoros haben Schumanns op.41,3 eingespielt auf ihrer ersten CD, veröffentlicht beim Label Mirare. Sie beendeten ihr Debutkonzert mit einer raren Zugabe: der „Alla Valse Viennese“ von Erwin Schulhoff, der 1942 im Konzentrationslager Wülzburg starb.