Eine unmögliche Beziehung

Neulich ist es wieder passiert. Zwei Besucherinnen kamen in die Galerie von Barbara Thumm, um sich die aktuelle Ausstellung anzuschauen. Angelockt hatten sie die Ansichten auf der Website, und es sieht ja auch fantastisch aus, was Wynnie Minerva da in dem hohen Raum arrangiert hat: Vor rosa gefärbten Wänden räkelt sich ein halbes Dutzend Gestalten unter metallisch glänzenden Folien, über den Boden erstreckt sich ein arkadisches Gemälde. Die verborgenen Körper fügen sich in dieses Bild wie schimmernde Steine oder Außerirdische.

Bloß gibt es dieses Szenario der jungen peruanischen Künstlerin in der Realität gar nicht. Genauer: Es lässt sich betrachten, aber nicht begehen. Denn die Ausstellung von Wynnie Minerva findet ausschließlich in Thumms „New Viewings“-Raum statt. Der sieht zwar exakt so aus wie die Kreuzberger Galerie mit ihren charakteristischen Shet-Dächern und dem Betonfußboden, ist allerdings eine Art Klon. Basierend auf fotografischen Ansichten entstand per Fotoshop ein digitaler Ort. Die Ausstellungen dort sind ebenso virtuell wie die Adresse.

Dass Barbara Thumm diese experimentelle Plattform nun tatsächlich zum zweiten Standbein ihrer Kunstvermittlung macht, hat sie wohl selbst ein bisschen überrascht. „New Viewings“ ist ein Kind des Lockdown. Vor einem Jahr, als die Galerien ihre physischen Räume wegen Covid-19 erstmals schließen mussten, verfiel Thumm wie viele ihrer Kollegen auf die Idee einer alternativen Ausstellungsmöglichkeit.

„Keine geistige Pause“, war ihr Credo, bloß nicht in Schockstarre verfallen angesichts verschobener Kunstmessen und Reisen, sondern etwas entwickeln. „Einen utopischen Raum“ nennt sie ihr Projekt – doch während die meisten Galeristen hastig professionelle Firmen engagierten, um die laufenden Ausstellungen möglichst identisch in 3D-Räume zu übersetzen, lud Thumm über Monate Kurator:innen ein, sich online auszutoben.

Online sind Arbeiten zu sehen, die es außerhalb der Pixelwelt nicht geben könnte

Die Ergebnisse sind noch jetzt auf der Website der Galerie zu sehen und machen den Unterschied sofort einsichtig. Die von den Kurator:innen wie von Thumm ausgewählten 70 künstlerischen Projekte sind nur schwer bis gar nicht außerhalb der Pixelwelt umzusetzen. Es handelt sich um reine Renderings. Andererseits gibt es auch keine Limits, weil etwas zu schwer, zu teuer, zu kompliziert erscheint. Grenzen setzt hier nur die Fantasie der beteiligten Künstler:innen.

Axel Schweder zum Beispiel hat ein „Inflatable“ geschaffen, das irgendwo zwischen riesiger Discokugel und silbernen Hoden rangiert. Im flirrenden Raum pumpen sich beide Seiten abwechselnd an der Decke auf. Das sieht schick und ziemlich bombastisch, vor allem aber genauso echt aus wie Wynnie Minervas malerisches Arrangement und wird von sphärischen Klängen begleitet, die Fiona Banner aka The Vanity Press beisteuert. Der Berliner Künstler Maximilian Rödel hat die Wände der (virtuellen) Galerie eingerissen, dahinter erstreckt sich statt Kreuzberger Architektur ein Wald. Enes Güc und Evelyn Bencicova pflanzten einen monströsen Körper in den schwach erleuchteten Raum, der an Gulliver bei den Zwergen denken lässt: Die Gestalt ist denn auch festgepflockt und über kleine Stege begehbar.

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Wie enttäuscht muss sein, wer all diesen Ausstellungen einen Besuch abstatten wollte und feststellen musste, dass sie außerhalb des Computers nicht existieren. Und wie naiv, zu glauben, dass solche abenteuerlichen Konstruktionen von einer Galerie so einfach umgesetzt werden können. Dennoch kamen bald erste Anfragen. Ob es die abstrakten Skulpturen von Diango Hernández aus der „New Viewings“-Ausstellung #14 auch zu kaufen gäbe, wollte eine Sammlerin wissen. Diese seltsam schwebenden, aus kurvigen Elementen bestehenden Figuren, die der Künstler bis dahin allein digital umgesetzt hatte. Ein Gedanke – eine Herausforderung. Und der Anfang von etwas Neuem.

Werke von Diango Hernández sind auch jetzt in der Kreuzberger Galerie zu sehen, seine Soloschau „Instopia“ wurde zum Gallery Weekend Berlin eröffnet. Ganz real stehen die schweren Stahlobjekte dort, umgeben von ornamentalen Motiven, die ebenfalls zuerst als digitale Gemälde entstanden. Parallel bestreitet der in Düsseldorf und Havanna lebende Künstler, Jahrgang 1970, erneut eine Ausstellung auf der virtuellen Plattform von „New Viewings“ – mit teils identischen Exponaten. Diese Doppelschau ist die erste, bei der sich beide Formate überlappen – und Hernández’ Werk dafür geradezu ideal, weil es selbst zwischen der „Instagram Reality“ und der Wirklichkeit im Galerieraum wechselt.

Galerien müssen digitaler werden, um international sichtbar zu sein

Es geht also nicht darum, betont Barbara Thumm, das „Technologische gegen das Reale einzutauschen oder auszuspielen“. Sondern zu schauen, wie sich der „analoge Raum erhalten und zugleich erweitern“ lässt. Auch kommerziell: Dafür sorgt die Übersicht der „Available Works“, wo sich jeder der bei „New Viewings“ vertretenen Künstler mit Arbeiten und Preisen aufrufen lässt. Dass Galerien digitaler werden müssen, um auch in Zukunft international sichtbar zu sein, ist Thumm nach einem Jahr Corona klar. Dennoch will sie ihre Ausstellungen nicht einfach zum Scrollen ins Netz stellen. „Was mich ausmacht, ist das Diskursive“. Das soll auch online so sein.

„New Viewings“ wird weiterhin von renommierten Kurator:innen wie Clémentine Deliss oder dem Komponisten Augustin Maurs betreut, die sich Projekte für die digitale Plattform ausdenken. Obwohl: Manches davon kann ähnlich wie im Fall von Hernándes den Weg in die Galerie finden. Gerade denkt Barbara Thumm darüber nach, ob sich Schweders glitzernde Kissen nicht doch als echte „Inflatbales“ umsetzen lassen.
Galerie Barbara Thumm, Markgrafenstr. 68; bis 12. Juni unter den geltenden Corona-Verordnungen nach Terminbuchung zu sehen. „New Viewing“: https://bthumm.de/new-viewings/