Belcanto an der Mailänder Scala : „Lucia di Lammermoor“ im Laubsägewald
Eine emotional labile Frau wird zum Spielball politischer Intrigen in einer archaischen Männergesellschaft. Lucia Ashton ist in den Todfeind ihrer Familie verliebt, soll aber den Verbündeten ihres skrupellosen Bruders heiraten. Zum Schluss von „Lucia di Lammermoor“ sind Bräutigam, der Geliebte und Lucia tot, geopfert auf dem Altar der Männerehre.
In der Mailänder Scala wirddie weibliche Projektionsfläche der Männerbegierden gesungen von Lisette Oropesa, der führenden Sopranistin unserer Tage. In einem Interview sagte sie über die Frauengestalten der italienischen Oper, diese würden zwar von den Männern ums Leben gebracht, aber sie wehren sich und sterben mit einem Schrei, den niemand überhören könne. Auch den Jubel nach ihren Auftritten in der Mailänder Scala konnte niemand überhören, denn sie gestaltet die Koloraturen dieser fragilen Frau als mitreißende, wenn auch scheiternde Emanzipationsgeschichte. Ob sie euphorisch den Geliebten im Wald erwartet oder vergeblich versucht, sich gegen den Bruder zu wehren: Immer sind melancholischen Melodien Donizettis für Oropesa der Spiegel einer schonungslosen Selbstbefragung.
Ihr stimmlicher Farbenreichtum strahlt und schimmert über den düsteren Klängen, die der Dirigent Riccardo Chailly an diesem Abend betont. Die tiefen Stimmen des Orchesters sorgen für eine dramatische Grundstimmung, Bedrohung und Ausweglosigkeit sind allgegenwärtig. Das Orchester der Scala spielt mit größter Präzision und Hinwendung zu den ungemein einfallsreichen Instrumentationsdetails, die jedes deutsche Vorurteil über die orchestrale Ärmlichkeit der Belcantoopern hinwegfegen.
Brutales Durcheinander
Nicht nur Chaillys rhythmische Flexibilität ist faszinierend, auch wie Chailly zu den einzelnen Nummern hinleitet, ist schlicht atemberaubend. Der „schreckliche Moment“ des zweiten Finales, von dem im Libretto die Rede ist, wird in harmonischen Wendungen, Pausen und Stockungen des musikalischen Flusses spürbar. Die Entlastung im Ruhemoment des berühmten Sextetts wird zur musikalischen Notwendigkeit, die zum brutalen Durcheinander des Aktschlusses drängt.
Mittendrin agiert der Tenor Juan Diego Flórez mit stilsicher ausgestellten Spitzentönen, die er gerne demonstrativ in Richtung Galerie des riesigen Saals abfeuert, er weiß schließlich, was er dem Mailänder Publikum schuldig ist. Im 19. Jahrhundert unterschied man in Italien zwischen dem heldischen „Tenor des Fluchs“ und dem lyrischen „Tenor des schönen Todes“. Flórez kann zweifellos überzeugender sterben als fluchen, so dass mancher Fan wohl die eine oder andere Träne bei Edgardos Selbstentleibung verdrückt haben dürfte.
Für auswärtige Besucher mag das demonstrative Augenrollen mit Theaterdolch und Theaterblut beim Suizid ein Moment unfreiwilliger Komik gewesen sein, aber in Italien funktioniert diese Theaterkonvention noch immer erstaunlich gut. Regisseur Yannis Kokkos ist auch für die gesamte Ausstattung zuständig und hat für den schottischen Wald eine liebevolle Laubsägearbeit entworfen sowie für die weiteren Szenen eine einschüchternde Schlossarchitektur totalitären Ausmaßes. Chor und Solisten steckt er in vage historisierende Kostüme zwischen Entstehungszeit und Mitte des 20. Jahrhunderts. Dadurch strandet die Geschichte im hübschen Niemandsland unverbindlicher Opernträume, in denen jeder aktuelle Bezug sorgfältig vermieden wird.
Geheimnisvolle Glasharfe
Der Chor bewegt sich nur im Notfall, und auch dann nur so weit, dass er den Dirigenten noch gut im Blick hat, die Solisten singen nur ausnahmsweise im weiter entfernten Teil des Bühnenbilds. Wer die Freiheiten des professionellen Arrangements zu nutzen weiß wie Lisette Oropesa, erreicht in diesem konventionellen Rahmen höchste Intensität. Wenn im Duett mit der ortlos geheimnisvoll klingenden Glasharfe die Töne am Rande der Hörbarkeit schweben, schweißt sie die Zuhörer zu einer atemlos lauschenden Gemeinschaft zusammen, die mit der gequälten Frau mitleidet und ihre Begeisterung in lang anhaltendem Jubel zeigt.
Wer sich mit den schönsten Gesten aus 400 Jahren Operngeschichte zufrieden gibt wie der Bariton Boris Pinkhasovich als brutaler Bruder Enrico, lässt einfach stilvoll Donizetti für sich sprechen und wird dafür ebenfalls gefeiert. Der Bass Michele Pertusi ist als Raimondo eine sichere Bank und der Tenor Leonardo Cortellazzi wertet die Rolle des Arturo sehr auf.
Sie alle nehmen den hierzulande noch immer als Vielschreiber abgewerteten, in Wahrheit faszinierend einfallsreichen Donizetti ernst und wissen, dass man ihm keinen Gefallen tut, wenn seine genau austarierten Partituren zusammengestrichen, umgestellt und zwanghaft modernisiert werden. Ein Triumph für Oropesa, Flórez und Chailly, vor allem ein Triumph den Komponisten aus dem nahegelegenen Bergamo.