Die Zeit totschlagen: César Airas Essays feiern die Literatur als Weltflucht
Es gibt zwei Dinge, über die der wortgewandte César Aira nicht gern spricht, nämlich Fußball und Politik. Als Argentinier dem Nationalsport nicht zu huldigen, mag aus Intellektuellentrotz noch angehen. Doch alle Politik als bloße Zeitverschwendung abzutun, das garantiert Stirnrunzeln. Denn was ist von einem Schriftsteller zu halten, der reuelos Statements wie das folgende vom Stapel lässt: „Von ,engagierter Literatur’ spricht heute niemand. Da wäre nichts, wofür man sich engagieren könnte.“ Eine Bekundung aus dem Jahr 2017, das mit Trump im Oval Office, Brexit-Gezerre und Syriens blutigem Bürgerkrieg als Annus horribilis in Erinnerung bleiben wird.
Die Gegenwart ist seitdem nicht gemütlicher geworden, Aira aber bleibt bei seinem Diktum. Ganz einfach, weil diesem frenetischen Buchstabenjunkie die Literatur als utopischer Rückzugsort heilig ist. Für den bald 75-jährigen Verfasser von beinahe hundert Büchern soll sie die Welt nicht verbessern, sondern vielmehr ausblenden helfen. Wer liest, der macht sich im besten Sinne nutzlos. „Weltfluchtliteratur“ nennt Aira in Christian Hansens Goethe grüßender Übersetzung, was ihm vorschwebt: Eskapismus für die Lesekundigen!
Den findet er beispielsweise beim „Schatzinsel“-Schöpfer Robert Louis Stevenson und dessen Piratenromantik, nicht aber unserer Tage, wo sich die Autofiktion mit ihren realistisch geschilderten Familienschicksalen als neues Populärgenre etabliert hat. Pädagogisch wertvoll soll es sein, hilfreich und gut.
Für den bibliomanen Aira ist das alles eindimensionale Gesinnungsprosa, er beschwört dagegen lieber stur die Lektüre als Medium der Desidentifikation und Ablenkung vom Selbst. Das kann man für ebenso reaktionär oder rechthaberisch wie sein Beharren auf dem Roman als Primus aller Kunstformen halten. Zweierlei aber muss man Aira lassen: Seine Haltung ist konsequent und er ein Autor ersten Ranges. Bis zu drei Novellen im traditionellen Begriffssinn schreibt Aira pro Jahr, jede ein ideenfunkelnder Rohdiamant für sich.
Seine Essayistik wiederum, von der die „Weltflucht“ fünf Beispiele versammelt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich von seinem fiktionalen Schreiben in nichts unterscheidet. Wenngleich man mindestens zweien der Texte anliest, dass sie als Reden für lauschendes Publikum geschrieben wurden, darunter auch die Eröffnungsansprache zum internationalen Literaturfestival Berlin 2016 (ein Publikationsverzeichnis fehlt leider). Dabei gilt es sich auf Sprünge und Abstraktionen einzulassen, auf ein ausgefuchstes Denken, das keiner Schule folgt. Für die Willigen wartet Aira mit schnittigen Sentenzen auf, die Literaturtheorie wieder zurück in ihre Praxis führen.
Oder mit Aira gesprochen: „Das Pfund, mit dem ein Geheimnis wuchern kann, ist nun einmal seine Enthüllung.“ Ganz gleich, ob es augenzwinkernd um die Form des Essays, das Genie Salvador Dalí oder den fast vergessenen Konzeptualisten Raymond Roussel geht. Über Letzteren sagt Aira: „Er schrieb, um auf solide und dauerhafte Weise eine Lebenszeit zu füllen, die andernfalls leer geblieben wäre.“ Gleiches gilt umgekehrt für Aira. Besser, als ihn zu lesen, lässt sich die Zeit auf Erden kaum vertreiben.