Amazon verprellt Comicfans

„Vielen Dank für nichts!“, „totale Katastrophe“, „absolut unbrauchbar“, „ein Riesenschritt zurück“. Diese und ähnliche Kommentare finden sich seit vergangener Woche zuhauf in sozialen Medien sowie in den App Stores von Apple und Google, wenn es um die Plattform Comixology geht. Comixology ist der Platzhirsch bei digitalen Comics und (zumindest in den USA) der unangefochtene Marktführer, teilweise auch ein Monopolist.

Wer einen amerikanischen Comic, egal ob von Marvel, DC, Image, Boom oder einem anderen Verlag auf einem Tablet, Smartphone oder am PC lesen möchte, kommt kaum um Comixology herum. Doch in den vergangenen Tagen gab es gravierende Veränderungen für die Nutzer*innen und diese sind alles andere als begeistert.

Was war passiert? Nun, letztlich wurde ein lange angekündigtes Projekt umgesetzt, nämlich die Integration der Comixology-Dienste in die Landschaft von Amazon. Der E-Commerce-Gigant hatte Comixology schon im Jahr 2014 übernommen, seitdem konnte die Firma als weitgehend selbständige Marke ihre Dienste anbieten.

Zu nennen sind hier vor allem zwei: Zum einen der digitale Comicshop, der von Anfang an sehr gut auf die Bedürfnisse von Comicleser*innen zugeschnitten war, und in dem man vom allerneuesten Batman-Heft bis zu obskuren oder in gedruckter Form längst vergriffenen Titeln ein immenses Angebot findet. Zum anderen die Comic-Lese-Apps für Mobilgeräte, die ein sehr komfortables Lesen ermöglichen und den Konsument*innen die Wahl lassen, ob sie lieber Seite für Seite oder einzeln von Panel zu Panel lesen möchten (die von Comixology selbst entwickelte und von vielen sehr geschätzte „Guided View“-Technik).

Beides, das digitale Lesen und das digitale Einkaufen und Stöbern, war erkennbar von Leuten entwickelt, die Comics und deren spezifische Eigenheiten gut kennen. Schließlich war Comixology in seinen Gründungsjahren zuerst eine Community für Comic-Nerds, die dort vor allem ihre Abos und Bestellungen von gedruckten Comics verwalten konnten („Pull List“).

Jeder nur ein Stern: Die Bewertungen im App-Store von Apple sprechen eine klare Sprache.Screenshot: Thomas Kögel

Seit der Übernahme durch Amazon gab es immer wieder Befürchtungen der Kundschaft, dass der Großkonzern das gewohnte Angebot kaputt machen könnte. Bislang war das, abgesehen von ein paar kleineren Änderungen, nicht der Fall. Doch mit der großen Umstellung dieser Woche, die schon vor Monaten angekündigt und mehrmals verschoben wurde, ist es, zumindest aus Sicht vieler Anwender*innen, schließlich doch passiert: Comixology ist kaputt.

Ein Aufschrei der alteingesessenen Stammkundschaft mag in gewisser Weise normal sein und dazu gehören, wenn sich Dinge ändern — egal ob ein Supermarkt seine Regale neu strukturiert, eine Zeitung ihr Layout auffrischt oder eine Kantine ihren Speiseplan.

Im Fall von Comixology sind die Änderungen aber so zahlreich, so einschneidend und für so viele User*innen eine deutliche Verschlechterung, dass sich der Fall hier anders darstellt. Eine vollständige Liste aller Punkte, die sich geändert haben, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, deshalb seien hier nur die gravierendsten hervorgehoben:

Der Webshop

Die Website von Comixology war nicht nur ein gut funktionierender digitaler Einkaufsladen für Comics, sondern auch eine praktische Ressource für Recherchen. Etwa wenn man wissen wollte, welche Sammelbände zu welchen Serien wann erschienen sind, welche Autor*innen, Zeichner*innen und Kolorist*innen an einem Heft gearbeitet haben, oder wann die nächste Ausgabe von „Saga“ erscheint.

Seit dem Wochenende ist dieser Shop Geschichte: Wer comixology.com aufruft, landet direkt auf einer Unterseite des amerikanischen Amazon-Stores, die aber auch nur für die amerikanischen Amazon-Kund*innen funktioniert. Wer sich mit seinem hiesigen Konto einwählt, bekommt eine seltsam leere Seite zu sehen, die an Schaufenster von Kaufhäusern erinnert, welche gerade umdekoriert werden (nur ohne die nackten Puppen).

Kaufen lässt sich dort nichts, man wird auf amazon.de verwiesen. Dort landet man dann in der ungelenk benannten Rubrik „Comics & Mangas Kindle Bücher“ und darf dort in einer lieblosen, von einem nicht sehr schlauen Algorithmus kuratierten Mischung von Angeboten stöbern. Als Bestseller unter anderem empfohlen: ein paar „Lustige Taschenbücher“, diverse Erotik-Manga, aber auch E-Books, die nur aus Versehen in der Kategorie „Comics & Mangas“ gelandet sind, wie Witzesammlungen, Rollenspiel-Romane oder ein Roman von Natascha Wodin.

Eine reale Buch- oder Comichandlung, die einen mit derart vogelwild präsentierten Angeboten empfängt, würde man umstandslos wieder verlassen.

Leere Regale: Der Comixology-Bereich von amazon.com, wenn man als deutscher User eingeloggt ist.Screenshot: Thomas Kögel

US-Comics sind zwar im Shop vorhanden und kaufbar, müssen aber gezielt gesucht werden, was je nach Suchbegriff mehr oder weniger frustrierend sein kann. Wer im alten Comixology-Shop Serien direkt abonniert hatte, schaut in die Röhre, denn Abos werden außerhalb der USA vorerst nicht mehr angeboten.

Außerdem ärgerlich: Für neu gekaufte Comics entfällt künftig auch die Möglichkeit, sich eine Sicherungskopie ohne DRM – eine Art Kopierschutz – auf die Festplatte zu ziehen, was bisher zumindest für die meisten Titel abseits von Marvel und DC möglich war.

Der Web-Reader

Wer seine Comics direkt am Laptop oder PC lesen wollte, konnte das mit Comixology ebenfalls tun, mit weitgehend den gleichen Einstellmöglichkeiten wie in den Apps für Mobilgeräte. Seit vergangener Woche muss man hierfür den Kindle Cloud Reader benutzen, der von Amazon für das Lesen von E-Books am Bildschirm geschaffen wurde.

Ein kleines Bild und drumherum sehr viel Platz: So sehen doppelseitige Splashpages im Kindle Cloud Reader aus.Screenshot: Thomas Kögel, Illustration: “Monstress” von Marjorie Liu und Sana Takeda

Die sehr simple Oberfläche mag für Text-E-Books ausreichend sein, für Comics ist sie vollkommen ungeeignet. Mehr als Vor- oder Zurückblättern ist hier nicht möglich, eine Zoomfunktion gibt es nicht, und am Schönsten wird es bei doppelseitigen Splashpages: die zeigt der Cloud Reader nämlich verkleinert, umrahmt von großen schwarzen Balken. So will man Comics bestimmt nicht lesen.

Die neue App

Alle Anwender*innen der Comixology-Apps für Smartphones und Tablets sind gezwungen, die neue Version zu installieren – die alte zeigt nur noch eine Aufforderung zum Update. Diese neue App ist nun technisch eng verschränkt und verwandt mit Amazons Kindle-Apps zum Lesen von E-Books (möglicherweise ist diese Verzahnung der eigentliche Kern der Verschmelzung von Amazon und Comixology).

Beim „Look and Feel“ muss man sich etwas umgewöhnen, aber im Prinzip funktioniert das Lesen am Mobilgerät ähnlich wie vorher. Kein ganz so gravierender Einschnitt wie die oben genannten Punkte, trotzdem bringt das Update für die Leser*innen keine echte Verbesserung, im Gegenteil: Die Benutzung fühlt sich merklich träger an und es fehlen einige komfortable Funktionen wie die „Smart Lists“, die beim Überblick helfen, gerade wenn man eine größere Menge digitaler Comics gekauft hat.

Dass man über die App auch keine Comics mehr kaufen, sondern nur die im Web gekauften lesen kann, ist für iOS-Nutzer*innen nichts Neues mehr (das war 2014 die allererste Änderung, als Comixology von Amazon übernommen wurde, denn Amazon will keine Verkaufsprovisionen mit Apple teilen). Auf Android-Geräten war das Kaufen von Comics in der App aber jederzeit möglich – jetzt jedoch nicht mehr.

Kein Wunder also, dass es in den vergangenen Tagen in den App-Stores sowohl von Google als auch von Apple reihenweise 1-Sterne-Bewertungen hagelt.

Was noch?

Eine klare Verschlechterung bringt die Verschmelzung auch für unabhängige Klein- und Selbstverlage. Diese konnten bisher ihre Comics via „Comixology Submit“ anbieten und so Teil der Plattform werden. Das Bearbeiten der Seiten zur Ansicht im „Guided View“-Modus übernahm der Anbieter. Das „Submit“-Programm ist gestrichen, stattdessen muss nun „Kindle Direct Publishing“ (KDP) verwendet werden.

Wer bisher „Submit“ verwendet hat, muss alle seine Comics erneut mit KDP hochladen, und für die „Guided View“-Funktionalität ist man in Zukunft selbst zuständig. Zur Belohnung bekommt man dann nur noch 35% vom Umsatz, statt 50% wie bisher. Und ob sich die Sichtbarkeit kleiner Anbieter im unübersichtlichen Webshop von Amazon verbessert, dürfte sehr zweifelhaft sein.

“Das beste Leseerlebnis und die beste Sucherfahrung” verspricht Comixology, wenn man die neue App zum ersten Mal öffnet.Screenshot: Thomas Kögel

Bei so viel offensichtlichen Verschlechterungen stellen sich zwei Fragen: Was soll das? Und gibt es auch irgendeinen positiven Aspekt? Die erste Frage kann eigentlich nur Amazon selbst beantworten, dort reagiert man aber nicht auf Presseanfragen.

Man kann also nur mutmaßen: Sicher erhofft sich der Konzern Einsparpotenzial, wenn er die Technik im Hintergrund vereinheitlicht. Der Kaufprozess läuft nun direkt über das große Mutterschiff, das dürfte einigen Aufwand sparen. Und da die Comixology-Apps nun stark mit den Kindle-Apps verzahnt wurden, könnte man in Zukunft die ein oder andere Programmierer*in einsparen.

Amazon will aber sicher nicht nur sparen, sondern vor allem den Umsatz steigern. Da es weltweit sehr viel mehr Kindle-Kund*innen als Comixology-Kund*innen gibt, zielt man auf neue Leserschichten, die zwar schon elektronisch lesen, aber bisher keine digitalen Comics gekauft haben.

Außerdem fällt auf, dass Amazon sehr aggressiv seinen Abodienst „Kindle Unlimited“ bewirbt. Man will also die digitale Comicleserschaft zu monatlich zahlenden Abonnent*innen des Flatrate-Angebots machen. Außerdem wünscht man sich wohl mehr Umsatz außerhalb der USA, denn die neue Comixology-App ist erstmals mehrsprachig und die neuen Amazon-Storefronts sind auf die jeweilige Landessprache zugeschnitten.

Wer also bisher nichts mit Comixology anfangen konnte, weil der Shop nur auf Englisch verfügbar und nur wenige nicht-englischsprachige Titel im Angebot waren, könnte sich über die Neuerungen eventuell freuen. Ebenso wie Kund*innen von Amazon Prime, die über „Prime Reading“ nun auch eine kleine Auswahl von Comics in der neuen App lesen können.

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Aus Sicht der bisherigen Nutzer*innen von Comixology ist das nun vollzogene „Team-Up“ aber eindeutig ein Schuss in den Ofen, es dürfte unter ihnen kaum jemanden geben, der die Neuerungen richtig gut findet. Doch wie relevant ist dieser Kundenstamm für den Riesenkonzern? Letztlich ist der digitale Comicmarkt auch nur eine kleine Nische.

Wenn sich jetzt ein Teil der Kundschaft verärgert abwenden sollte, dürfte das fürs große A verschmerzbar sein – zumal es dank der monopolartigen Vormachtstellung von Comixology zumindest im US-Markt kaum Alternativen gibt.

Eine Rolle rückwärts, wie von manchen gefordert, wird Comixology sicher nicht machen. Wer also weiterhin dort kaufen oder zumindest seine bisher gekauften Comics weiterhin lesen möchte, muss sich wohl oder übel mit den Änderungen abfinden und auf allmähliche Besserung und Behebung der Probleme hoffen.

Bis dahin kann man sich an US-Comicjournalist David Harper halten, der auf seiner Website SKTCHD einen neuen Slogan vorschlägt: Statt des bisherigen Comixology-Mottos „Take Comics Further“ solle es ab sofort besser heißen: „Comixology – Digital Comics, Made Very, Very Difficult.“