Klassik und Klimaschutz: Tanz auf dünnem Eis
Das Bach-Archiv Leipzig unterstützt die Anpflanzung des „Johann-Sebastian-Bach-Waldes“ am Rande eines ehemaligen Braunkohle-Tagebaus im Süden von Leipzig. Beim Berliner Verein „Orchester des Wandels“ hat sich die Zahl der teilnehmenden Orchester innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Laut Website sind inzwischen 36 deutsche Sinfonieorchester Mitglied, helfen mit bei einem Aufforstungsprojekt in Madagaskar und thematisieren den Klimaschutz in ihren Konzerten. Die Freiburger Albert-Konzerte veranstalten bereits rund 50 Prozent ihrer Konzerte klimaneutral und bieten sogenannte Klimapatenschaften an, um die Besucherschaft noch stärker einzubinden. Das Thema Klimaschutz ist in der Klassik angekommen.
Mit dem Gstaad Menuhin Festival kümmert sich nun auch ein großes Schweizer Klassikfestival substanziell um Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit. Dafür hat Intendant Christoph Müller den gesamten Betrieb von einer Klimaagentur untersuchen lassen und für die kommende Festivalausgabe, die bis zum 2. September unter dem Motto „Demut“ steht, erste Maßnahmen ergriffen.
Nachdenken im Detail
„Unser erstes Ziel ist die Klimaneutralität unserer Geschäftsstelle. Das haben wir selbst in den Händen“, sagt Müller. Es wird klimaneutral gedruckt, im täglichen Betrieb stehen Müllvermeidung und Recycling im Fokus, die Energie kommt vom lokalen Fernwärmenetz. Die Verpflegung der Künstlerinnen und Künstlern wird von lokalen Anbietern mit regionalen Produkten übernommen. Damit erreiche das Festival das erste Level des „Swisstainable“ genannten Nachhaltigkeitsprogramms von Schweiz Tourismus. Level 2 von insgesamt drei Stufen werde für Ende des Jahres angepeilt, erklärt Müller.
Die eigentlichen CO2-Treiber bei einem dezentralen Festival wie in Gstaad im Berner Oberland sind die Anreisen der Künstler und des Publikums. „Bei den Künstlern verhandeln wir inzwischen das Thema Anreise wie die Gagen, die Hotelübernachtung und das Programm. Das wirkt sich letztendlich auch auf die Auswahl der Orchester, Chöre und auch Einzelkünstlerinnen und -künstler aus“, sagt Müller.
Aber gefährdet diese Vorgabe nicht die Qualität des Festivals? Der Intendant verneint und betont: „Über allem steht die Exzellenz bei unseren rund 60 Veranstaltungen. Das ist uns sehr wichtig! Wir können einzelne Flugreisen von Orchestern oder Künstlern nicht verhindern. Aber beispielsweise wird das Orchestre Philharmonique de Radio France aus Paris mit dem Zug anreisen. Und auch andere Klangkörper wie der Chor des Bayerischen Rundfunks aus München oder die Gaechinger Cantorey aus Stuttgart nehmen die Bahn.“ Das Publikum wird schon bei der Ticketbestellung auf öffentliche Verkehrsverbindungen hingewiesen. Ein Bus-Service für ein großes Einzugsgebiet ist eingerichtet, um den Umstieg vom Auto zu erleichtern.
„Music for the planet“
Der Klimawandel wird aber auch programmatisch thematisiert. Im Kinder- und Familienkonzert „Dance on Ice“ werden Kinder und Jugendliche mit Tanz und Musik auf den Temperaturanstieg auf der Erde aufmerksam gemacht. Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja hat die auf drei Jahre angelegte Konzertreihe „Music for the Planet“ konzipiert, um durch Musik die Menschen auch emotional mit der dramatischen Erderwärmung und der Zerstörung der Lebensgrundlage zu konfrontieren.
„Zu Franz Schuberts ‚Forellenquintett‘ hat Patricia selbst ein Melodram geschrieben, das auf die katastrophale Situation der Inuits hinweist, die von der Erderwärmung unmittelbar betroffen sind (10.8., Kirche Saanen). Die von ihr und der Camerata Bern gespielten ,Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz’ von Joseph Haydn (20.8., Kirche Saanen) kombiniert sie mit einer audiovisuellen Performance“, sagt Müller.
Auch ein Klassiker der musikalischen Naturbeschreibung wie Ludwig van Beethovens „Pastorale“ wird von ihr und dem Gstaad Festival Orchestra beim mit „Les Adieux“ überschriebenen Konzert (5.8., Gstaad, Festivalzelt) bearbeitet, verfremdet und mit Texten und Projektionen konfrontiert. Keine Flucht vor der Welt in die heile Natur also, sondern die Erkenntnis, dass diese Idylle durch den Menschen akut gefährdet ist.