Psychothriller-Manga „Blood on the Tracks“: Deine Mutter, das unbekannte Wesen

Auf den ersten Blick wirkt der Familienalltag des 13-jährigen Seiichi Osabe harmonisch. Doch hinter dem vielsagenden Mona-Lisa-Lächeln seiner außergewöhnlich fürsorglichen Mutter verbirgt sich ein verstörendes Geheimnis.

Worin das besteht und welche Folgen es für den Sohn hat, davon erzählt der renommierte Manga-Autor Shuzo Oshimi („Die Blumen des Bösen“) in seiner fortlaufenden Erfolgsserie „Blood on the Tracks“, die kürzlich beim Comicfestival von Angoulême mit dem Preis für die beste Comic-Serie ausgezeichnet wurde.

Ein fröhlicher Wandertag mit der Familie endet fatal

Anfangs lässt der 42-Jährige die mit filigranem Strich realistisch gezeichneten Figuren in einem hellen, klar strukturierten Setting agieren. Im Laufe der Reihe, deren vierter Band gerade auf Deutsch erschienen ist, ist die Bildsprache mehr und mehr von düsteren Schraffurzeichnungen und beunruhigenden Naturbildern geprägt.

 Schuld und Angst, Verwirrung und Aggression: Eine Seite aus „Blood on the Tracks“.
 Schuld und Angst, Verwirrung und Aggression: Eine Seite aus „Blood on the Tracks“.
© CHI NO WADACHI © 2017 Shuzo OSHIMI/SHOGAKUKAN

Das ruhig gestartete Familiendrama wird zunehmend zum rasanten Psycho-Thriller. Nach einem fatal endenden Familienausflug offenbart sich sukzessive, wie toxisch das enge Verhältnis der jungen Mutter zu ihrem Sohn ist. 

Shuzo Oshimi nimmt sich viel Zeit und Raum, um seine Geschichte zu erzählen. Vieles wird anfangs nur angedeutet, durch Aussagen der agierenden Personen aber vor allem durch differenziert eingesetzte visuelle Elemente wie eine fein abgestufte Körpersprache und Gesichter in Großaufnahme, in denen sich Schuld und Angst, Verwirrung und Aggression spiegeln. Viele der zunehmend beklemmenden Szenen kommen ganz ohne Worte aus.

Inspiriert von Bob Dylan und Charles Baudelaire

Während die Persönlichkeit der Mutter nach und nach diabolischer erscheint, versinkt ihr schon zu Beginn der Erzählung eher introvertierter Sohn zunehmend in einer eigenen Welt, verliert vorübergehend seine Sprache und kapselt sich von Mitschülern und Freunden ab.

Im Verlauf der Geschichte wird die Bildsprache düsterer und surrealistischer: Eine weitere Seite aus „Blood on the Tracks“.
Im Verlauf der Geschichte wird die Bildsprache düsterer und surrealistischer: Eine weitere Seite aus „Blood on the Tracks“.
© Manga Cult

Zwischendurch aufkeimende Hoffnungszeichen werden immer wieder durch neue dramatische Entwicklungen konterkariert – wobei das Publikum oft im Unklaren gelassen wird, was hier Wirklichkeit und was Imagination ist, zunehmend fließen surrealistische Elemente in die Geschichte hinein.

In Japan ist die seit 2017 laufende Serie, deren Name von einem Bob-Dylan-Album aus dem Jahr 1975 inspiriert wurde, ein Bestseller. Bis Ende 2022 wurde von den dort bislang veröffentlichten 15 Bänden nach Verlagsangaben rund zwei Millionen Exemplare verkauft.

Dämonen, Rächer und eine Profikillerin als Nachbarin

Verstörende, aber kunstvoll gezeichnete Geschichten sind eine Spezialität von Shuzo Oshimi, dessen Manga auch als Realfilme und Anime adaptiert wurden.

Shuzo Oshimi: „Blood on the Tracks“, bislang vier Bände auf Deutsch (hier die Cover der Bände 3 und 4), Übersetzung Jan-Christoph Müller, Manga Cult, je 216 Seiten à 10 Euro
Shuzo Oshimi: „Blood on the Tracks“, bislang vier Bände auf Deutsch (hier die Cover der Bände 3 und 4), Übersetzung Jan-Christoph Müller, Manga Cult, je 216 Seiten à 10 Euro
© Manga Cult

In seinem Mystery-Science-Fiction „Drifting Net Cafe“ zu Beispiel wird ein Internetcafé samt Kundschaft zum geheimnisvollen Gefängnis. In der Reihe „Die Blumen des Bösen“, die nicht nur beim Titel von Charles Baudelaire inspiriert wurde und im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen ist, wird ein Schüler von seiner Klassenkameradin erpresst, eine fatale Beziehung mit ihr einzugehen. Und in „Happiness“ ändert sich das Leben eines unscheinbaren Teenagers drastisch, als er von einer Vampirin gebissen wird und ins Visier brutaler Gangs gerät.

Die verhängnisvolle Mutter-Sohn-Beziehung in „Blood on the Tracks“ greift ein Motiv auf, dass in Manga-Reihen in jüngster Zeit in vielen Variationen zu finden ist. Mehrere derzeit populäre Serien drehen sich darum, dass die meist jungen Hauptfiguren entdecken, dass ihnen eigentlich vertraute Personen wie Freunde und Verwandte unbekannte, potenziell bedrohliche Seiten offenbaren.

Im Horror-Manga „Der Sommer, in dem Hikaru starb“, dessen erster Band kürzlich auf Deutsch im Verlag altraverse erschienen ist, zieht ein Dämon in den Körper eines Teenagers ein und stellt dessen Freund vor eine große Probe. In „My Home Hero“ (MangaCult, bislang sechs Bände) wird ein unscheinbarer Angestellter zum Rächer, als er vom Plan des Freundes seiner Tochter erfährt, sie zu ermorden. Und in der Thriller-Reihe „Frau Suzuki wollte doch nur ein ruhiges Leben“ (Carlsen-Verlag, bislang drei Bände) entpuppt sich die Nachbarin des zehnjährigen Jinsuke und seiner Mutter als Profikillerin, die den Jungen nach einem dramatischen Vorfall in Schutz nimmt.

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