NFT-Investoren mischen den Handel auf
CryptoPunks – sie sind die Klassiker des NFT-Booms, der seit März die Kunst-Gemeinde hypnotisiert: 10 000 Cartoon-Köpfe, im Juni 2017 mit je 24 mal 24 Pixeln algorithmisch generiert. Weil das Magazin ArtReview in seiner Liste der „Art Power 100“ an erster Stelle die Formel „ERC-721“ nennt, den Standard für den 2018 von Entwicklern des Ethereum Netzwerks vorgeschlagenen Non-Fungible-Token (NFT), lohnt sich ein Blick zurück.
Die beiden kanadischen Software-Entwickler Matt Hall und John Watkinson vom New Yorker Studio Larva Labs entwickelten die CryptoPunks als Bilder für Sammler: weibliche und männliche Comic-Charaktere mit punkigen Accessoires, exaltierten Frisuren, Ringen im Ohr, bunten Brillen und Käppis. Auf der Ethereum (ETH) Blockchain identifizierten sie jedes Image mit Nummer und Kurzbeschreibung und protokollierten die jeweiligen Transaktionen.
Erworben werden die Eigentumsrechte am Bild
Als digitales, dezentral auf verschiedenen Rechnern geführtes Register kann die Blockchain- oder Datenblock-Technologie jedes Bild als NFT zertifizieren, als eine Art nicht tauschbare Wertmarke und damit Unikat. Wer kryptographisch verschlüsselte Kunst kauft, kauft nicht das Bild selbst, sondern die Eigentumsrechte an dem Bild, das ihn zum Besitzer und das Werk zum Unikat macht. Ein sogenannter Smart Contract ermöglicht es, nachzuvollziehen, wer ein Token programmiert, gekauft, gehandelt oder wieder veräußert hat.
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Transparenz ist ein Clou der NFT-Blockchain-Technologie, ihr revolutionäres Element ist das NFT, das digitale Echtheitszertifikat, mit dem generell jedes Ding als Unikat definiert oder identifiziert werden kann. Insofern können Künstler ihre Werke digital kreieren, präsentieren und unabhängig von Galeristen selbst vermarkten. Vor allem aber eignen sich NFTs hervorragend für alle Arten von Wertgegenständen, seien es digitale, medienbasierte oder physische Kunstwerke, Besitzrechte an Immobilien, Juwelen oder anderen Luxusgegenständen, stylische Outfits für Figuren in Onlinespielen oder der erste Tweet, den Twitter-Erfinder Jack Dorsey am 21. März diesen Jahres auf der Plattform Cent für 2,9 Millionen Dollar verkaufte.
Die Auktionshäuser stiegen spät ein, aber nicht zu spät
Waren es zunächst spezialisierte Onlinehandelsplattformen wie Nifty Gateway, SuperRare, Decentraland oder OpenSea, auf denen NFTs und CryptoKunst gehandelt wurden, so explodierten die Preise, als im März Christie’s, Sotheby’s und Phillips mit einigen Plattformen als Partnern in den Kryptokunstmarkt eingestiegen waren. Spät, aber nicht zu spät entdeckten sie sein Potenzial.
Vor allem Tech-Unternehmer, Blockchain- und Krypto-Investoren wurden so als Käufer angelockt. Sie ließen sich nicht lange bitten: Den Rekordpreis von 69 Millionen Dollar, den Christie’s am 11. März mit einer Collage des US-Künstlers Beeple erzielte, zahlte der in Singapur ansässige Programmierer und Gründer des NFT Investmentfonds Metapurse, Vignesh Sundaresan. Nachdem er die virale NFT-Aufholjagd der Kunstszene eröffnet hatte, ging es Schlag auf Schlag: Zunächst machten am 11. Mai bei Christie’s neun Cryptopunks von Larva Labs, geschätzt auf 7-9 Millionen, für 16,9 Millionen Dollar Furore.
Das erste NFT war ein fluoreszierend vibrierendes Oktagon
Noch phänomenaler waren die 11,7 Millionen Dollar, die der „Alien“-CryptoPunk mit Maske, Nummer 7523, im Juni bei Sotheby’s erzielte. Sein Besitzer, ein Krypto-Investor und NFT-Kunstsammler mit dem Pseudonym Silly Tuna, erwarb auf derselben Auktion das erste aller NFTs, „Quantum“, ein fluoreszierend vibrierendes Oktagon, das der Digitalkünstler Kevin McCoy 2014 entworfen hatte, für 11,4 Millionen Dollar.
So mischen nun oft jüngere Insider-Investoren aus dem Kryptowährungs-, Blockchain- und NFT-Markt auch den Kunstmarkt auf. Zum Beispiel Ryan Zurrer, der Anfang Dezember bei Christie’s Beeples kinetische NFT-Videoskulptur für 29 Millionen Dollar erwarb. Nicht nur NFT-Kunst, auch ikonische Werke der Kunstgeschichte reizen sie inzwischen. So gab der 31-jährige Justin Sun, Gründer der Krypto-Plattform TRON 78,4 Millionen bei Sotheby’s für Alberto Giacomettis Skulptur „Le Nez“ (1947) aus. Er will weitere Schlüsselwerke der Avantgarde kaufen, was die Auktionshäuser freut und sie Kryptowährungen akzeptieren lässt.
Der zeitgenössische Auktionsmarkt verschiebt sich
Eine Win-Win-Situation? Aktuell verschiebt sich der zeitgenössische Auktionsmarkt, was Preisgefüge und ästhetische Trends betrifft. Auf der Art Basel Miami Beach präsentierte Christie’s zusammen mit der Plattform OpenSea eine NFT-Auktion, bei der das Werk „Forever“ des Kanadiers Michah Dowbak alias Mad Dog Jones versteigert wurde. Im April hatte sein Bild „Replicator“ bei Phillips den Rekord von 4,1 Millionen Dollar erzielt. „Forever“ ist aus einem anderen Grund spannend: Jones bezieht sich häufig auf Manga. „Der Fluss des Erzählens im Manga ist immersiv. Er lässt die Fangemeinde in die Bilder wie in Augmented Reality-Räume eintauchen“, erklärt Jacqueline Berndt, Kuratorin der Ausstellung „Flow: Erzählen im Manga“ im Zürcher Museum Rietberg die Popularität des Genres.
Nicht nur das japanische Comic, auch der Kunstmarkt Asiens wird immer einflussreicher. So beschreibt der Report der Plattform Art Price die aktuelle Verlagerung des Kunstmarktzentrums von den USA (Marktanteil 32 Prozent) nach China (40 Prozent). Bemerkenswert sind die drei führenden Künstler des asiatischen Markts: An der Spitze steht der Japaner Yoshitomo Nara, gefolgt von dem Afroamerikaner Jean-Michel Basquiat und dem Chinesen Liu Ye.
Bezüge zu Manga und Graffiti-Elemente sind unübersehbar
Naras Bezüge zur Ästhetik des Manga sind unübersehbar ebenso wie Graffiti-Elemente im Werk von Basquiat. Dieser ist zudem der Künstler mit dem zweitstärksten Umsatz (303,5 Millionen Dollar) des gesamten Auktionsmarkts nach Pablo Picasso. Auf Platz fünf – auch dies ist signifikant für den Shift ästhetischer Tendenzen – folgt nach Warhol und Monet der Street-Art-Künstler Banksy mit einem Umsatz von 123,3 Millionen Dollar. Nara steht auf Platz neun mit einem Umsatz von immerhin 85 Millionen Dollar.
Die Ästhetik ehemaliger Subkulturen – Street Art und Graffiti – dominiert ebenso wie die von Manga und Cartoons den gesamten Kunstmarkt einschließlich der NFTs. Die drei populärsten Künstler mit den weltweit am meisten verkauften Losen heißen Kaws, Takashi Murakami und Banksy. Diese stilistisch-ästhetischen Vorlieben können als symptomatisch gelten für die aktuell auch den Kunstdiskurs beherrschende Idee der Disruption.
Künstler der „Black Renaissance“ erleben Millionensprünge
Sie sind zugleich ein visuelles Pendant der Diskurse über Diversität. Denn an der Spitze jener jüngeren Künstler mit zum Teil exzessiven Preissprüngen bei Auktionen stehen Vertreter mit afrikanischen oder afroamerikanischen Wurzeln. Werke des Ghanaers Amoako Boafo, der Nigerianerin Njideka Akunyili Crosby, der Britin Jadé Fadojutimi oder der Afroamerikanerin Amy Sherald übersteigen inzwischen die Millionengrenze. Nicht nur Künstler der „Black Renaissance“ erleben Millionensprünge, sondern auch jüngere Künstlerinnen wie die britische Malerin Flora Yukhnovich, die die Allüre des Rokoko neu interpretiert oder die Amerikanerin Emily Mae Smith, die Surrealismus und Symbolismus subversiv mit feministischen Komponenten auflädt.
Epigonale Kunstprodukte schwemmen den Markt
Auch das Geld aus der Krypto-Finanzwelt befeuert diese Hype-Wellen. Unvermeidlich bringen sie eine Menge an epigonalen Kunstprodukten „im Stil von“ hervor, doch diese kann man unterscheiden lernen.
Am Ende dieses Geld-Kapriolen schlagenden Kunstjahres lässt sich sagen: NFT bleibt und entwickelt sich auch für den Primärmarkt zum vielversprechenden Segment. So startete der US-Galeriegigant Pace vor kurzem seine eigene NFT-Plattform: Pace Verso, denn Kunsthändler Marc Glimcher ist überzeugt: „In eine Gemeinschaft eingebunden zu sein, ist das Neue, nicht mehr das Besitzen von Kunst.“
Nagel Draxler planen ein „postavantgardistisches Krypto-Kabinett“
In Berlin eröffnet die Galerie Nagel Draxler im Januar ein auf NFTs und Blockchain-basiertes „postavantgardistisches Krypto-Kabinett“, wie Christian Nagel angekündigt hat. Auch der Berliner Galerist Johann König experimentiert mit digitalen Marktplätzen und dem NFT-basierten Verkauf von Anteilen an Blue-Chip-Kunst. „Wir arbeiten gegen das System der Hemmschwellen“, sagt er.
Sogar das streng hierarchische Saudi-Arabien will seinen „Dark Ages“ mit der neuen Diriyah Biennale entkommen. Auch Documenta und Manifesta, die Berlin- sowie die Venedig-Biennale werden im kommenden Jahr die Teilhabe sehr vieler Menschen an den Visionen und Missionen der Künstler ermöglichen. Disruption tut gut.