Staatsballett Berlin tanzt erstmals Pina Bausch: Geschlechterkrieg auf Torf
Mit großer Spannung ist die letzte Premiere des Staatsballett Berlin in dieser Saison erwartet worden. Dass die Berliner Compagnie zum ersten Mal ein Stück von Pina Bausch tanzt, ist ein Ereignis! Für die scheidende Interims-Intendantin Christiane Theobald ist damit ein Traum in Erfüllung gegangen.
Sie hatte sich lange darum bemüht, die Rechte für „Das Frühlingsopfer“ von der Pina Bausch Foundation zu erhalten. Nur wenige Ballettcompagnien durften bisher eines der Stücke aufführen, die Pina Bausch für das Tanztheater Wuppertal kreiert hat. Das Staatsballett gehört nun also zum Kreis der Auserwählten.
Der Bühnenboden in der Staatsoper ist mit einer dicken Schicht Torf bedeckt. Wenn die Musik mit dem Fagott-Solo anhebt, liegt eine Frau zusammengekrümmt auf einem roten Tuch. Die Tänzerinnen in ihren hautfarbenen Kleidchen betreten nacheinander die Bühne und nehmen Kontakt mit der Erde auf.
„Das Frühlingsopfer“ von 1975 ist das letzte im traditionellen Sinn durchchoreografierte Stück von Pina Bausch. Sie zeigt kein heidnisches Ritual, sondern einen Tanz um Leben und Tod. Damit gelang ihr eine zeitlos gültige Interpretation von Strawinskys Schlüsselwerk „Le Sacre du printemps“.
Die Staatskappelle Berlin unter Leitung von Guiseppe Mentuccio spielt großartig. Präzise arbeitet sie die rhythmischen Überlagerungen heraus; bei den Steigerungen entfaltet sie eine enorme klangliche Wucht. Die Opposition der Geschlechter ist ein Grundthema bei Pina Bausch. Hier sind die Gruppen der Frauen und der Männer meist getrennt. Die Frauen drängen sich oft furchtsam aneinander, in banger Vorahnung. Die Männer stürmen mit kraftvollen Sprüngen und jagen den Frauen nach.
Für klassisch trainierte Tänzer:innen stellt das Stück eine große Herausforderung dar. Denn hier müssen sie mit dem Gewicht und mit der Schwerkraft arbeiten. Pina Bausch hat weich schwingende, aufblühende und lyrische Bewegungen entworfen. Es dominieren aber die rohen, gewaltsamen Passagen mit den stoßenden Bewegungen. Immer wieder schlagen die Frauen mit verschränkten Händen in Richtung Unterleib, die Körpermitte ziehen sie in einer tiefen Kontraktion zusammen. Man hört den schweren Atem der Tänzer:innen, sieht ihnen die Anstrengung an – undenkbar im Ballett mit seinem Ideal der Schwerelosigkeit!
Wenn die Frauen das rote Tuch weiterreichen, bis das Opfer auserkoren ist, stockt einem der Atem. Clotilde Tran als Auserwählte erstarrt zunächst; man sieht, wie ihr der Schrecken in den Leib fährt. Dann wirft sie sich in einen wilden Tanztaumel, bis sie am Ende zusammenbricht. Dem Staatsballett gelingt eine überzeugende Interpretation von Pina Bauschs aufwühlendem Meisterwerk, auch wenn sich die physische Vehemenz sicher noch steigern lässt.
Eröffnet wurde der Strawinksy-Ballettabend mit Marco Goeckes Interpretation von „Petruschka“, entstanden 2016 in Zürich. Goecke sorgte jüngst für einen Eklat: Er hatte eine Kritikerin mit Hundekot beschmiert. Einige Compagnien nahmen daraufhin seine Werke vom Spielplan. „Petruschka“ dennoch in Berlin zu zeigen, war die richtige Entscheidung. Fern von jeder Skandalisierung zeigt die Aufführung Goeckes Qualitäten als Choreograf.
Einstudiert wurde „Petruschka“ von Nicole Kohlmann, Goecke selbst, immer noch Persona non grata, hatte keinen Kontakt zu den Tänzer:innen, was einige von ihnen bedauert haben. Sein hypernervöses Vokabular mit den schnellen ruckartigen Bewegungen hat das Ensemble sich aber auf bezwingende Weise angeeignet. Der Strawinsky-Abend ist eine Sternstunde des Tanzes. Nur sind die fünf anberaumten Vorstellungen alle schon ausverkauft. Das große Interesse und der frenetische Applaus aber zeigen deutlich: Berlin braucht unbedingt einen „Sacre“ im Repertoire.