„Ein ausgefeiltes System“: Was über die Vorwürfe gegen Rammstein bekannt ist
Rammstein, die als weltweit erfolgreichste deutsche Band gilt, steht seit Tagen in der Kritik. Den Anfang machten am 25. Mai Äußerungen der Irin Shelby Lynn auf Twitter und Instagram. Sie berichtete darüber, auf einem Rammstein-Konzert angeblich unwillentlich unter Drogen gesetzt worden zu sein und Verletzungen erlitten zu haben. Es folgten Äußerungen weiterer Frauen.
Am 2. Juni veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ dann einen Artikel, der ein „ausgefeiltes System“ beschreibt. Es diene dazu, Rammstein-Frontmann Till Lindemann „gezielt Frauen zuzuführen“. Die Zeitung schreibt, es gehe „um möglichen Machtmissbrauch“ und „mutmaßliche sexuelle Übergriffe“.
- Für die Recherche hätten „SZ“ und „NDR“ mit zahlreichen Frauen gesprochen. Sie seien Konzertbesucherinnen aus verschiedenen Städten und Ländern.
- Der Vorwurf: Frauen würden vor oder während der Konzerte angesprochen und mit Backstage-Armbändern und Alkohol versorgt werden. Manche von ihnen, so schreibt die „SZ“, sollen Lindemann zugeführt worden sein.
- Teils seien sie auf möglichen Sex mit Lindemann vorbereitet worden.
- Zuvor hätten sie Fotobewerbungen bei einer Frau namens Alena M. einreichen sollen und daraufhin Hinweise auf die Kleiderordnung bekommen.
Auf den Backstage-Partys habe es dann viel Alkohol gegeben und es sei Kokain angeboten worden, schreibt die „SZ“ unter Verweis auf Chatnachrichten und Erinnerungsberichte.
Mehrere Berichte von Frauen im Backstage-Bereich von Rammstein
Die „SZ“ beschreibt mehrere Erinnerungsberichte von Frauen, die Zugang zum Backstage-Bereich von Rammstein bekommen hätten. Eine der Geschichten betrifft Cynthia A.. Sie und zwei weitere Frauen hätten von Lindemann auf einem Laptop das kurz zuvor erst veröffentlichte Musikvideo zum Lied „Platz eins“ gezeigt bekommen. Im für die Band typischen, provokanten Stil zeigt es unter anderem Szenen, in denen Lindemann amputiert in einem Krankenhausbett liegt und Szenen, in denen Frauen entführt werden.
Nach der Präsentation des Videos habe Lindemann Cynthia A. mit in die Garderobe genommen. „Ich will nicht sagen, dass das eine Vergewaltigung war, weil ich ja zugestimmt habe, aber ich war jetzt auch nicht offensichtlich glücklich darüber, was da passiert. Ich hatte auch ziemlich starke Schmerzen und es muss ihm auch aufgefallen sein, dass es nicht leicht war, mit mir zu schlafen“, wird Cynthia A. in der „SZ“ zitiert.
„Das war alles ziemlich schnell und ziemlich gewaltvoll.“ Sie habe beim Geschlechtsverkehr aber nicht sagen wollen, dass sie Schmerzen gehabt habe, „weil es war eben Till Lindemann“.
Ein anderer bei der „SZ“ geschilderter Fall betrifft Kaya R., die am 22. August 2019 ein Rammstein-Konzert in ihrer Heimatstadt Wien besucht habe. Sie sei von einem Mann namens Joe L. (Anm. d. Red.: ein Musiker, der zur Rammstein-Crew gehört) für die Aftershowparty ausgewählt worden, wo sie mit den Bandmitgliedern, aber ohne Till Lindemann gefeiert und das als „sehr schön“ empfunden habe. Es habe gratis Alkohol gegeben.
Kaya R. sei dann von Alena M. angesprochen worden, ob sie Lindemann treffen wolle, und habe zugestimmt. Später in einem Hotel habe es „viel Alkohol gegeben“. Kaya R.s Erinnerugen seien lückenhaft geworden. Sie wisse nicht, wie sie in ein Hotelzimmer gekommen sei, schreibt die „SZ“. Als Kaya R. wieder zu Bewusstsein gekommen sei, sei „Till auf mir drauf“ gewesen, wie sie in der „SZ“ zitiert wird. Lindemann habe sie dann gefragt, ob er aufhören solle. Kaya R. habe nicht gewusst, womit er aufhören wollte.
Auch auf wiederholte Tagesspiegel-Anfrage hat sich das Management von Rammstein bisher nicht zu den Vorwürfen geäußert.
Selbstbestimmte Groupies: Der Bericht in der „NZZ“
In einem am 2. Juni erschienen Artikel in der „NZZ“ wird ebenfalls das von der „SZ“ geschilderte System des gezielten Anwerbens junger Frauen beschrieben. Die Zeitung habe dafür mit mehreren Frauen gesprochen.
Im Artikel werden zwei Beispiele geschildert. Allerdings ist in diesen Berichten keine Rede von unwillentlich konsumierten Drogen oder Übergriffen. Die Berichte stehen damit im Kontrast zu den Beschreibungen in der „SZ“.
Eine Diana genannte Frau habe der „NZZ“ zufolge Tickets für ein Rammstein-Konzert in Klagenfurt gekauft und ihre Vorfreude in einem Post auf Instagram ausgedrückt. Anschließend sei sie von Alena M. in die sogenannte Reihe 0 und zur Pre- und After-Party eingeladen worden. Die Reihe 0 sei ein abgesonderter Bereich direkt vor der Bühne von Rammstein-Konzerten, für den keine Tickets im Verkauf erhältlich seien.
Diana sei der Einladung gefolgt. Sie habe vor der Pre-Party ihr Handy abgeben müssen. Kurz vor Konzertbeginn habe Diana von Alena M. erfahren, dass Till Lindemann sie in der Konzertpause alleine treffen wolle. Auf Nachfrage soll Alena M. versichert haben, dass dort nichts passiere, das sie nicht wolle.
Während dem Treffen mit Till Lindemann soll es zu einem Kuss gekommen sein. „Der Kuss ging klar von mir aus. Till hätte nichts versucht“, wird Diana in der „NZZ“ zitiert. Sie bescheinige Alena M., einen „hervorragenden“ Job zu machen.
Nach dem Konzert soll Diana auch auf der After-Party gewesen sein. Alena M. habe dort später verkündet, dass die Band nun ins Hotel fahre und die Frauen mitgehen dürften. Diana sei ins entsprechende Taxi gestiegen, habe der „NZZ“ zufolge aber vor Ankunft im Hotel „die Reißleine gezogen“. „Da wusste man ja schon, worauf man sich einlässt“, wird Diana in der „NZZ“ zitiert. Sie wisse von drei Frauen, die noch ins Hotel gingen, mehr wisse sie nicht. Es schien aber „alles cool“.
Auch die angebliche Erfahrung einer Mona Gulyas mit Rammstein wird im „NZZ“-Artikel als positiv geschildert. Mona beschreibe Till Lindemann laut „NZZ“ als freundlichen und zurückhaltenden Menschen.
An der Absicht hinter den Treffen mit den Frauen kommt aber auch hier kein Zweifel auf. Von einem Manager habe Mona nämlich erfahren, dass nach einem Konzert manchmal ein Aufruf an die Frauen gemacht werde: „Die Jungs gehen jetzt duschen, wenn ihr wollt, könnt ihr mitgehen.“
Mona ging der Schilderung nach mit der Band und einigen Frauen in einen Techno-Club und kehrte morgens in ihre Ferienwohnung zurück. „Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt unsicher gefühlt“, so das Zitat in der „NZZ“.
Im Bericht ist von einer Whatsapp-Gruppe mit dem Namen „Rammstein Leipzig 2022“ die Rede, in der sich „gut zwei Dutzend Frauen“ befunden haben sollen. Außerdem wird eine Kleiderordnung für die Frauen beschrieben, so wie es auch in dem „SZ“-Bericht der Fall war.
Das Management von Rammstein hat sich auf Tagesspiegel-Anfrage auch nicht zu dem Bericht in der „NZZ“ geäußert.
Brachte den Stein ins Rollen: Der Fall Shelby Lynn
Die Veröffentlichungen von „SZ“ und „NZZ“ folgen auf die Schilderungen der Irin Shelby Lynn in den sozialen Netzwerken. Lynn besuchte eigener Aussage zufolge am 22. Mai das Rammstein-Konzert im litauischen Vilnius. Anschließend berichtete sie auf Twitter in einer sehr detaillierten Beschreibung davon, auf der Veranstaltung wohl gegen ihren Willen unter Drogen gesetzt worden zu sein. Auch weitere Frauen sollen davon betroffen gewesen sein.
Lynn ist nach eigener Aussage von der Rammstein-Crew zu einer Party vor und nach dem Konzert eingeladen worden. Sie berichtet, wie sie zuvor eine Frau namens Alena M. auf Instagram angeschrieben und M. um entsprechenden Zugang gebeten habe. Joe L. habe Lynn und andere Mädchen dann vor dem Konzert gefilmt. L. habe Lynn später in Aussicht gestellt, Till Lindemann zu treffen.
Auf der Pre-Show Party habe es alkoholische Getränke gegeben. Der Sänger Till Lindemann sei kurz bei den Frauen erschienen und habe sie aufgefordert, Tequila zu trinken, was auch passiert sei. Kurz darauf setzte bei Lynn ihren Angaben zufolge ein starker Rausch ein, der aber nicht vom Alkohol gestammt habe. Die Beschreibung von Lynn legt nahe, dass eine Substanz in den Getränken den Rauschzustand ausgelöst haben könnte.
Lynns Schilderung zufolge hat sie Lindemann später in einer Konzertpause in einem kleinen Raum getroffen, in den sie von Joe L. geführt worden sei. Der habe ihr zuvor versichert, dass es nicht um Sex gehen würde. Nach Lynns Angaben kam es jedoch anders.
Weil die junge Frau in dem Raum keinen Sex mit ihm gewollt habe, habe Lindemann verärgert reagiert, schreibt Lynn. Lynn zufolge habe Lindemann geschrien: „Joe hat gesagt, du würdest es machen.“ Danach sei Lindemann sichtlich verärgert durch den Vorhang verschwunden und habe vor dem Raum gewartet.
Doch, wie Lynn klarstellt: „Till hat mich NICHT angefasst. Er hat akzeptiert, dass ich keinen Sex mit ihm haben wollte. Ich habe nie behauptet, dass er mich vergewaltigt hat.“ Lynn verließ den kleinen Raum nach einigen Minuten wohl ungehindert.
Fotos von Verletzungen veröffentlicht – Stellungnahme von Rammstein
Später am Abend übergab sich Lynn nach eigener Aussage und zeigte weitere Vergiftungserscheinungen. Am nächsten Morgen sei sie mit Hämatomen aufgewacht. Lynn veröffentlichte die Fotos der Verletzungen, die sie nach dem Konzert bei sich entdeckt hatte. Wann und wie sie entstanden sein könnten, erklärte Lynn nicht. Lynn veröffentlichte auch Videos von sich an dem Konzertabend und die Chatverläufe mit anderen Frauen, die auf den Partys waren.
In manchen Medien war zuvor Missbrauchsvorwürfen gegen Till Lindemann berichtet worden, doch die hat Lynn laut eigener Aussage gar nicht erhoben.
Die Band erklärte in einer Stellungnahme via Twitter: „Zu den im Netz kursierenden Vorwürfen zu Vilnius können wir ausschließen, dass sich was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat. Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt.“
Lynn hat ihren Angaben zufolge am Tag nach dem Vorfall mit der litauischen Polizei gesprochen. Sie schreibt, dass sie viele Berichte anderer Frauen kenne, die offenbar ähnliche Erfahrungen mit Rammstein gemacht hätten wie sie. Zurück in Großbritannien wollte sie einen elaborierten Drogentest, der erste in Litauen am Tag nach dem Konzert war negativ ausgefallen.
Frauen werden angeblich gezielt angesprochen
Die geschilderte Praxis, Frauen gezielt anzusprechen und für Sex mit Till Lindemann zu rekrutieren, wird nach dem Vorfall mit Lynn auch von anderen Frauen beschrieben, über die unter anderem die österreichische Seite „oe24.at“ berichtet. Dem Bericht zufolge sei eine Frau, „die sich als Liebes-Recruiterin ausgab“, 2019 an eine Konzertbesucherin herangetreten, die an einer Aftershow-Party teilgenommen haben soll. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um Alena M..
Der Konzertbesucherin soll dann von der „Liebes-Recruiterin“ ein „unmoralisches Angebot“ in Zusammenhang mit Till Lindemann gemacht worden sein. Auch habe man ihr „weißes Pulver“ angeboten, um das Eis zu brechen. Zudem ist bei „oe24.at“ von einem Auswahlverfahren die Rede: Lindemann bekomme von der „Liebes-Recruiterin“ per WhatsApp Steckbriefe von Frauen mit Foto und Informationen zum Alter zugeschickt. Auch diese Angaben sind nicht zu verifizieren.
Auch zu diesem Fall hat sich das Rammstein-Management auf Tagesspiegel-Anfrage nicht geäußert.
Die bekannte Youtuberin Kayla Shyx hat unterdessen angekündigt, zu erzählen, wie sie sich „um ein Haar aus einer sehr gefährlichen Situation gekriegt“ habe. Das schrieb sie auf Instagram.
Auch Shyx sei auf einem Rammstein-Konzert „auf die afterparty rekrutiert“ worden. „Ich werde euch erzählen was mir passiert ist und was für eine kranke, systematische, pedofile (sic) sexual Straftäter Mafia“ hinter Rammstein stecke, behauptete sie. „Es sind hunderte Mädchen betroffen“, schrieb Shyx zudem.
Verlag beendet Zusammenarbeit mit Till Lindemann
Am 2. Juni erklärte der Verlag Kiepenheuer & Witsch nun in einer Pressemitteilung, dass er die Zusammenarbeit mit Till Lindemann mit sofortiger Wirkung beende. 2013 war Lindemanns Buch „In stillen Nächten“ bei dem Verlag erschienen.
Als Grund wurde ein „unheilbar zerrüttetes“ Verhältnis zu Lindemann angegeben, nachdem der Verlag im Zuge der aktuellen Berichterstattung Kenntnis erlangt habe „von einem Porno-Video, in dem Till Lindemann sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert und in dem das 2013 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienene Buch ‚In stillen Nächten‘ eine Rolle spielt.“ Das ganze Statement hier.
Sophia Thomalla verteidigt Till Lindemann
Schauspielerin Sophia Thomalla, die mit Lindemann liiert war, verteidigte den Rammstein-Frontsänger derweil am 29. Mai in der „Bild“-Zeitung. Sie nahm dabei Bezug auf Shelby Lynn.
„Diesen ,Vorfall’ in Vilnius hat es nie gegeben! Das ist frei erfunden von einer Person, die sich auf dem Rücken eines Rockstars für 5 Minuten Fame verschaffen möchte“, erklärt Thomalla.
Auch auf Twitter unterstellen viele User, dass Lynn nicht die Wahrheit sage. Allerdings gibt es in den sozialen Netzwerken auch zahlreiche Solidaritätsbekundungen mit Lynn und Berichte über die Erlebnisse in der sogenannten Reihe 0, wo sich die Frauen für die Partys bei den Konzerten befinden. Auch Lynn postete ein Video von sich in der Reihe 0.
Schauspielerin Nora Tschirner wies in einer Story auf ihrem Instagram-Account darauf hin, welche Gefahren darin liegen, Opfer als aufmerksamkeitsheischend darzustellen. Tschirner bezeichnete das als „heftige Form psychischer Gewalt, die zur Retraumatisierung und Einschüchterung von weiteren Geschädigten beiträgt.“