Die Diva und der Dieb
Alles beginnt mit einem A. Wenn der Mensch Schmerz fühlt, wenn er etwas versteht, wenn ihn die Lust überwältigt: egal ob als „Aua“ oder „Ah“ immer ertönt derselbe Vokal. Diese Erkenntnis teilt die als Erzählerin des eigenen Lebens fungierende Hauptfigur Anna am Anfang von „AEIOU“ in rauem Timbre mit. Stimme und Körper gehören Sophie Rois, die als Theaterstar im zweiten deutschen Wettbewerbsbeitrag genau das spielt: eine in Posen erstarrte Theaterdiva.
„Das schnelle Alphabet der Liebe“, wie die Romanze von Nicolette Krebitz im Untertitel heißt, kann es an Radikalität nicht mit ihrem aufregenden Vorgängerfilm „Wild“ von 2016 aufnehmen. Darin nahm die von Lilith Stangenberg gespielte Heldin Ania in der Liebe zu einem Wolf animalische Züge an und kehrte gar der Zivilisation den Rücken.
Die reife Lady und der Toyboy
So weit lässt Krebitz ihre neue Alpha-Frau diesmal nicht gehen. Trotzdem kratzt auch Annas Liebe zum Schulversager und Tagedieb Adrian (Milan Herms) an einem gesellschaftlichen Tabu: dem von der reifen Lady und dem minderjährigem Toyboy.
Dass sie sich überhaupt begegnen, liegt am Sprechunterricht, den Anna Milan vor einem Laientheaterauftritt erteilt. Statt der einstigen großen Bühnenparts ergattert Anna nur noch unerquickliche Hörspielrollen, wie eine heitere Szene mit Bernhard Schütz als schmierigem Darstellerkollegen und Laura Tonke als Lieblieb-Regisseurin zeigt.
In Annas Altbauwohnung erinnert ein überlebensgroßes Konterfei an ihren einstigen Jugendschmelz, über den der ungehobelte Milan mit den vollen Lippen und der kleinkriminellen Zukunft allzu reichlich verfügt.
Angesichts der kribbelnd strengen logopädischen Lektionen, die Anna im eingestaubten Zimmer ihres suizidalen Gatten erteilt, fühlt man sich an Isabelle Huppert in „Die Klavierspielerin“ erinnert. Nur, dass Anna ihre Einsamkeit nicht mit der Mutter teilt, sondern mit ihrem Busenfreund und Vermieter Michel, den Krebitz’ alter Freund Udo Kier spielt.
Beider Stammkneipe ist die Paris Bar, einst Fixstern der West-Berliner Bohème. Dieser versunkenen Welt huldigt der sanft nostalgische Look von Kameramann Reinhold Vorschneider.
[15. 2., 15 Uhr und 18. 2., 12 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 17. 2., 20.30 Uhr (Berlinale Palast), Kinostart: 5. Mai.]
Die zeitliche Verortung bleibt betont unklar. Auch wenn die Côte d’Azur, wohin sich die verunsicherten Liebenden flüchten, mit den reichen Russinnen erkennbar heutig ist. Eine erleichtert Adrian im Vorbeigehen um einen Beutel Juwelen und wirkt dabei so unwiderstehlich skrupellos wie eine 2022er-Ausgabe von Cary Grant in „Über den Dächern von Nizza“.
Sonntagmittag bei der Pressekonferenz
Die Lehrerin und der Schüler, der Dieb und die Diva, das sind klassische romantische Motive, denen sich Krebitz, die auch das Drehbuch geschrieben hat, bewusst ist. Ja mehr noch: Sie habe sich an der Côte d’Azur mit ihrem Kameramann in der Erinnerung durch die Liebesfilme des französischen Autorenkinos der sechziger und siebziger Jahre bewegt, erzählt sie Sonntagmittag bei der Berlinale-Pressekonferenz.
„Ein großer Spaß in der Liebe ist ja sowieso, alles nachzustellen, was man in Filmen und Büchern über sie gelesen hat. Und sich dann darüber hinwegzusetzen.“ So wie „Anna“ Sophie Rois, die auf den Podium alle Lacher auf sich zieht, als sie erzählt, dass es sehr viel leichter als gedacht sei, intime Sexszenen zu drehen.
Privat und ohne Zuschauer bemühe man sich beim Sex immer, authentisch zu sein, sagt sie. „Aber wenn man in einem Raum ist, der voll ist mit Kameraleuten und Käsebrötchen und Kram, dann ist es ganz einfach: Man ist erlöst vom Skript des eigenen Lebens.“
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Um diese Leichtigkeit muss ihre sperrige Figur in „AEIOU“ heftig ringen. Annas Selbstwertgefühl ist deformiert durch das Altern und taxierende Männerblicke. In einer Szene aus Annas Privatarchiv ist zu sehen, wie sie Moritz Bleibtreu als Bier saufenden TV-Talkshowgastgeber ob seiner sexistischen Bemerkungen abbügelt. Adrian einfach glauben, der sie „perfekt“ findet, vermag sie trotzdem nicht.
Ihr Riesenbrain, die Zartheit, der Punk
Nicole Krebitz, Jahrgang 1972, die ja selbst als Schauspielerin arbeitet, ist mit der immer noch von patriarchaler Prägung bestimmten Halbwertszeit des Berufs vertraut. „Ich wollte Sophie unbedingt so zeigen, wie sie ist“, sagt sie über die 1961 geborene Kollegin, die sie aus Pollesch-Stücken kennt. „Mit ihrem Riesenbrain, ihrer zarten hellen Haut, den hellblauen, manchmal grünen Augen, ihrem Punk.“ Solche Rollen kämen in Filmen nach wir vor zu selten vor.
Dass Nicolette Krebitz darüber in „AEIOU“ vergisst, ihr Liebesalphabet weiter als bis zum A durchzudeklinieren, sei ihr nachgesehen. Untermalt von aufrauschendem Soulpop und Wellensittichgeflatter schwingt sich ihr Film immer wieder zu Momenten der Leichtigkeit auf. Ein paar Sekunden erdvergessen schweben können, das fehlt so sehr im Kino und im Leben.