Zurück in die Achtziger

Die Nacht gehört dem Radio. Paris schläft, vereinzelt fällt Licht aus den Hochhausfenstern, ein junges Mädchen fährt mit den Fingern die Leuchtpunkte auf dem MétroPlan ab. Im Radio spricht Vanda mit denen, die nicht schlafen können.

Die angeraute, nasale Stimme von Emmanuelle Béart am Mikrofon, der zarte, helle Klang von Charlotte Gainsbourg als Élisabeth, die die nächtlichen Anrufer am Telefon entgegennimmt: Sie haben etwas Hypnotisches, wie Vandas Sendung angesiedelt zwischen Anonymität und Intimität. „Les passagers de la nuit“ heißt sie, angelehnt an den legendären Nachttalk „Les choses de la nuit“ von France Inter.

Menschen, die reden wollen, die ein Ohr brauchen: Élisabeth könnte selber so eine Anruferin sein. Wir schreiben die Achtziger, ihr Mann hat sie verlassen, sie muss die halbwüchsigen Kinder alleine durchbringen, also nimmt sie den Radiojob an, dazu arbeitet sie Teilzeit in der Bibliothek. Einmal mehr verkörpert Gainsbourg eine fragile Frau, eine, die sich selbst unterschätzt und Beschützerinstinkte weckt.

Dabei ist sie es, die sich um andere kümmert. Ihr Sohn Matthias (Quito Rayon-Richter) will Lyriker werden? Sie achtet darauf, dass er sich nicht in seinen Träumen verliert. Die Tochter Judith (Megan Northam) hat politische Ambitionen? Élisabeth bewahrt sie vor Zynismus. Und sie nimmt Talulah auf (Noée Abita), das Mädchen am Métro-Plan aus der Eingangsszene, eine, die keine Familie hat, keine Wohnung und immer wieder an der Nadel hängt. Élisabeth wird auch für sie zur mütterlichen Gefährtin.

Charlotte Gainsbourg (l) and Emmanuelle Béart auf dem roten Teppich vor der Berlinale-Premiere von “Les passagers de la nuit”. eFoto: AFP/Stefanie Loos

Nach und nach beschleicht einen jedoch der Verdacht, dass Regisseur Mikhaël Hers (“Mein Leben mit Amanda”), weniger an seinen Figuren liegt und an der Geschichte einer Frau, die sich neu erfindet, um es mit einer abgegriffenen Formel zu sagen, sondern am seinem eigenen feinfühligen, beiläufigen Ton, in dem er etwa Matthias’ erste Liebe und Élisabeths erste neue Liebe nach der Ehe parallel ins Bild setzt.

Beiläufigkeit ist eine Kunst. Hers, selber Jahrgang 1975, beschwört hingegen unentwegt das Flair der achtziger Jahre, er hüllt einen förmlich ein mit Achtziger-Atmosphäre, arbeitet mit Filtern und melancholisiert Paris mit verwaschenen, ihrerseits angerauten Bildern.

[Wiederholungsvorstellungen am 14.2., 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 15.2., 18 Uhr (FSP), Fr 18.2., 15 Uhr (Berlinale Palast) 20.2., 12 Uhr (FSP)]

Eine Hommage, eine Erinnerung: an das Lebensgefühl in Paris nach der Wahl Mitterrands, an die „Les passagers de la nuit“ anfangs erinnert. Im Kino läuft Rohmers „Vollmondnächte“ mit der tragisch zu früh verstorbenen Pascale Ogier, noch so eine Nachtgestalt.

Und eine Hommage an das Hochhausviertel Beaugrenelle ist der Film auch noch: Die Familie lebt in einer oberen Etage, mit beneidenswertem Blick aus dem Panoramafenster auf die ikonische Sixties-Fassade des Hotels Nikko. Das Maison de la Radio, bald Élisabeths zweites Zuhause, liegt ganz in der Nähe, auf der anderen Seite der Seine.

Am meisten hat sich die Kamera allerdings in das Gesicht von Talulah verguckt. Noch beim kalten Entzug verliert Noée Abita nichts von ihrer fast noch kindlich großäugigen, südländischen Schönheit – ein wenig denkt man dabei an die junge Béart. Eine immer perfekt geschminkte Drogensüchtige: Erinnerung kann auch zu gnädig sein.