Ukrainischer Ballettchef im Interview: „Wir sprechen für unser Land“
Herr Zhuravlev, wie ist es Ihnen seit Beginn der Ausweitung des russischen Angriffskrieges ergangen?
Der Morgen des 24. Februar hat mein Leben in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ geteilt. Meine Frau, die Tänzerin Kateryna Kalchenko, und ich wachten gegen 5 Uhr auf. Wir hörten Explosionen und Schüsse. Uns wurde klar, dass wir schnell packen und weggehen mussten.
Denn wir hatten ein fünf Monate altes Baby, dessen Reisepass wir an diesem Tag abholen wollten. Wir beschlossen ins Ausland zu gehen, obwohl wir ohne Papiere unterwegs waren. Ich hatte nur einen Gedanken: Wie kann ich meine Familie in Sicherheit bringen?
Wie ging es weiter?
Wir waren zutiefst deprimiert und apathisch. Schließlich ist es sehr schwierig, rund um die Uhr zu verfolgen, was im eigenen Land geschieht. In diesem Zustand hat man keine Lust, etwas zu tun oder zu schaffen. Ein weiterer schwieriger Moment war die berufliche Herausforderung.
Wir probten gerade „Radio & Juliet & Quatro“ für die Aufführung am 19. März in Zagreb. Alles war bereit, und das Projekt war genehmigt. Aber vom gesamten Team sind nur meine Frau und ich in Europa gelandet. Alle anderen Mitwirkenden blieben in der Ukraine.
Offenbar haben Sie einen Weg aus der Apathie gefunden, denn das Stück war schon mehrmals in Europa zu sehen.
Ursprünglich wollte ich mich wirklich nicht engagieren, da meine Arbeit mit Kunst zu tun hat, was Freude und Unterhaltung bedeutet. Aber dann sahen wir, dass dieser Schwebezustand weder für uns noch für unsere Verwandten gut ist. Wir verstanden, dass wir Projekte ins Leben rufen und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen können, die gehen konnten. Dass die Chance besteht, Wohltätigkeitsveranstaltungen zu organisieren. Also machten wir uns wieder an die Arbeit.
Wie sah das aus?
Wir setzten uns mit großen europäischen Theatern in Verbindung, um sie in das Projekt einzubinden. Ich sprach mit Bühnen in Bratislava, Prag und Brünn. Die erste Zusage kam vom Theater im slowenischen Maribor, wo Edward Clug, der Schöpfer der Choreografie von „Radio & Julia“, arbeitet. Innerhalb weniger Tage klärten wir die technischen Fragen, um doch noch in Zagreb auftreten zu können. Für zwei Wochen zog ich mit meiner Familie nach Slowenien, um dort zu proben.
Schwierige Bedingungen, aber Sie sind dann ja sogar auch auf Tour gegangen.
Ja, in kürzester Zeit haben wir Tourneen in Italien und Rumänien organisiert – mit Galakonzerten und klassischen Stücken wie „Giselle“. Alle Künstler waren über ganz Europa verstreut. Aber ich versammelte ein Team und fand eine Basis für die Proben in Polen. Zudem mussten die Leute untergebracht werden, was nicht leicht war, denn es gab viele Flüchtlinge.
Wo wohnten Sie selbst in dieser Zeit?
Wir hatten keinen festen Wohnsitz. Die Familie ging mit mir überall hin. In zwei Monaten besuchten wir neun Länder und legten mehr als 30 000 Kilometer zurück. Während der Tournee bewegten wir uns mit dem Auto, oft ging es nachts in die nächste Stadt. In zwei Monaten absolvierten wir mehr als 20 Auftritte.
Nach jedem Auftritt haben wir den Leuten erzählt, was in der Ukraine passiert.
Ivan Zhuravlev
Haben Sie bei der Tournee auch den Krieg in der Ukraine thematisiert?
Ja, wir sind ein Sprachrohr unseres Landes. Nach jedem Auftritt haben wir den Leuten erzählt, was in der Ukraine passiert. Es gab Situationen, in denen ich mit Menschen sprach, die nicht so recht an die Geschehnisse in der Ukraine glaubten. Meine Aufgabe war es, die Menschen über den Krieg zu informieren. Das hat mich inspiriert und hilft mir immer noch, weiterzumachen.
Was erwartet das Publikum bei der Aufführung in Berlin?
Das Stück ist sehr minimalistisch. Auf der Bühne sehen wir nur das Cello, das Klavier und die Balletttänzerinnen- und Tänzer. Die Musik des Radiohead-Albums „O.K. Computer“ und Shakespeares Drama sind eine gewagte Kombination, die subtile Emotionen hervorruft. Edward Clug schuf die Choreografie und die Inszenierung im Jahr 2005, seitdem ist das Stück weltweit sehr beliebt.
Was geschieht mit den Einnahmen?
Wir sind Teil der Initiative #SupportUkraine und arbeiten mit der gemeinnützigen Stiftung Tabletochki zusammen. Mit dem Geld werden zum Beispiel Familien unterstützt, die evakuiert werden müssen oder Ärzte, die Ausrüstung brauchen.
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