Kämpferisch und voller Hoffnung
Binnaz Saktanber ist freiberufliche Autorin und Redakteurin. Sie lebt in Istanbul, schreibt wöchentlich für die „Gazete Oksijen“ und weitere Medien. Ihren Text hat Nadine Lange aus dem Englischen übersetzt.
Als der Kunstmäzen und Geschäftsmann Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, erhielten sieben weitere Menschen Haftstrafen von 18 Jahren. Sie sollen Kavala bei seinem angeblichen Verbrechen geholfen haben, dem versuchten Sturz der Regierung durch die Gezi-Proteste im Jahr 2013.
Es handelt sich um Yiğit Ali Ekmekçi, einen der Gründer der Istanbuler Bilgi-Universität, Ali Hakan Altanay, den Direktor der Boğaziçi European School of Politics, die Architektin Mücella Yapıcı, den Architekten und Stadtplaner Tayfun Kahraman, den Anwalt Can Atalay, die Dokumentarfilmerin Mine Özerden sowie die Filmemacherin und Produzentin Çiğdem Mater. Yapıcı, Kahraman und Atalay waren Mitglieder der Taksim-Solidarität, einer Dachplattform, die sich zum Zeitpunkt der Proteste gegen die Gentrifizierung von Taksim und den Abriss des Gezi-Parks zugunsten eines riesigen Einkaufszentrums einsetzte.
Schwächung der Zivilgesellschaft
Das Urteil schockierte und empörte viele Bürgerinnen und Bürger. Denn für Millionen von Menschen, die sich an den Protesten beteiligt haben, war Gezi das beste Beispiel für einen friedlichen Basisprotest ohne institutionelle Führer und mit Teilnehmenden aus allen Gesellschaftsschichten.
Nach dem Urteil waren die sozialen Medien in der Türkei gefüllt mit Hashtags wie #GeziyiSavunuyoruz (Wir verteidigen Gezi), #GeziYargılanamaz (Gezi kann nicht angeklagt werden) und #HepimizOradaydık (Wir waren alle da).
In der Vergangenheit wurden Künstlerinnen und Künstler, die auch nur die geringste Unterstützung für Gezi gezeigt hatten, auf schwarze Listen gesetzt, eingeschüchtert und ihre Arbeiten zensiert. Infolgedessen verließen viele Künstler und Intellektuelle das Land und fanden Zuflucht in Städten wie Berlin.
Das harte Vorgehen gegen Andersdenkende schwächte die Energie der Zivilgesellschaft. Künstlerinnen und Künstler zögerten, sich zu äußern oder zensierten sich selbst. Dieses Mal jedoch war ihre Reaktion unmittelbar, stark und bemerkenswert.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Die erste Reaktion kam von den Filmschaffenden. In einer Erklärung, die unter anderem von den Regisseuren Nuri Bilge Ceylan, Fatih Akın und Yeşim Ustaoğlu unterzeichnet wurde, heißt es: „Wir werden unsere Wut über dieses Urteil in Hoffnung und Mut umwandeln, unermüdlich daran arbeiten, unser Land aus der Dunkelheit ins Licht zu führen und eine Türkei aufzubauen, in der wir gemeinsam in Freiheit leben. Wir werden uns nicht zum Schweigen bringen oder einschüchtern lassen.“
Innerhalb von zwei Tagen gab es mehr als 5000 Unterschriften. Der Schauspieler Aykut Sezgi Mengi gehörte zu den Erstunterzeichnern. Als er das Urteil in den sozialen Medien sah, ging er sofort zum Gerichtsgebäude in Çağlayan. Im Gespräch sagt er: „Ich dachte, ich könne das Urteil nur glauben, wenn ich es mit meinen eigenen Augen sehe. Ich konnte nicht begreifen, dass Menschen, die vor zwei Jahren vom selben Verbrechen freigesprochen wurden, jetzt in Haft sind.“
Die Erklärung ist für ihn das Hoffnungsvollste, was aus diesem Debakel hervorging. Die große Zahl der Unterschriften sei ein Zeichen dafür, dass es noch mutige Menschen gebe, die die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit aufrechterhalten. „In der Atmosphäre, in der wir leben, ist es wichtig, Solidarität zu zeigen. Osman Kavala ist eine Schlüsselfigur in der Kunst- und Kulturszene der Türkei. Ich glaube, dass seine Stärke eine Inspiration für Künstler und ihre Werke sein wird. Çiğdem Mater ist eine der erfolgreichsten Produzentinnen der Türkei. Sie wird weiterhin großartige Filme machen. Ich glaube, dass sie bald frei sein werden. Daran möchte ich glauben. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren“, sagt er.
Petitionen von Filmschaffenden und Schriftstellern
Die in Berlin lebende Filmemacherin Zeynep Dadak hat die Erklärung ebenfalls unterzeichnet. Sie sagt: „Es schmerzt und macht mich wütend, dass unseren Freunden so einfach die Freiheit genommen wird.“ Mücella Yapıcı habe ausgesagt, Osman Kavala seit 2000 nicht mehr gesehen zu haben. Nicht einmal ein Telefongespräch zwischen ihnen habe es gegeben. „Dennoch wird behauptet, dass sie zusammen intrigiert haben. Es gibt keine Beweise, keine Zeugen“, so Dadak.
Im Anschluss an die Petition schlossen sich 15 Filmgewerkschaften und Berufsverbände zusammen, um gegen das Urteil zu protestieren. Das Dokumentarfilmfestival Documentarist wies darauf hin, dass Çiğdem Mater für den bloßen „Gedanken“, einen Dokumentarfilm zu drehen, verurteilt wurde.
Zu ihrer Verteidigung sagte sie: „Ich habe an den Gezi-Park-Protesten als Aktivistin zum Schutz des Parks teilgenommen und als Filmemacherin. Ich habe keinen Film darüber gedreht, wie in der Anklageschrift behauptet wird, aber ich hätte es tun können. Das ist etwas, das wir nicht in Gerichtssälen, sondern in Kinosälen diskutieren müssen.“ Die Filmgemeinde kritisierte auch das Internationale Istanbuler Filmfestival, das gerade den von Mater produzierten Film „Yaban“ gezeigt hat, ohne jedoch Unterstützung für Mater zu zeigen.
Die queer-feministische Aktivistin und Autorin Burçin Tetik, die seit 2016 in Berlin lebt, sagt: „Was mich an der Verfolgung schockiert hat, ist die Willkür und völlige Irrationalität der Verfolgung. Çiğdem Mater wurde für einen Film, den sie nicht gemacht hat, zu 18 Jahren verurteilt. Ich befürchte, dass dies zu einer immensen Selbstzensur und zum Schweigen in der Kunstszene führen wird, da die Filmfestivals, die Maters Werke zeigen, zögern, sich zu ihr zu bekennen.“
Zusammen mit der Organisation International Coalition for Filmmakers at Risk (ICFR) hat jedoch die Berlinale, die den von Mater produzierten Film „Toz Bezi“ 2016 im Forum gezeigt hatte, die Freilassung aller Angeklagten gefordert.
Kurz nach dem Urteil versammelten sich feministische Aktivistinnen vor dem Frauengefängnis von Bakarköy, in dem Mater, Yapıcı und Özerden inhaftiert sind.
Susma Bitsin, eine Solidaritätsplattform von Frauen aus Film, Fernsehen und Theater erklärte: „Wir haben erlebt, wie der Widerstand gegen die Unterdrückung durch die patriarchalische Regierung und die Weigerung, sich der Gesetzlosigkeit zu unterwerfen, bestraft wird. Wir wissen, dass diese Bestrafung eine Folge von Angst und Wut ist, doch die Stimmen von Millionen werden nicht verstummen. Ihr habt einen Film bestraft, der noch gar nicht gedreht wurde; wir werden nicht aufhören, unsere Filme zu machen und für das zu kämpfen, von dem wir wissen, dass es gerecht ist.“
Man ließ Luftballons in den Himmel steigen, in der Hoffnung, dass sie vom Gefängnis aus gesehen werden.
Auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller protestierten. 198 unterzeichneten eine Erklärung, darunter Latife Tekin, Murathan Mungan und Aslı Erdoğan. In dieser heißt es: „Wir waren alle dort, wir sind immer noch dort. Wir betrachten das Urteil als unser eigenes. Wir haben keine Angst; wir geben nicht nach.“
Gezi ist ein Ort der Hoffnung!
Der Schriftsteller Barbaros Altuğ, PEN-Mitglied und Mitunterzeichner, sagt: „Das Urteil war ungerecht, unrechtmäßig und von oben angeordnet. Diese Menschen, die sich furchtlos und unermüdlich für die Verbesserung der Türkei einsetzen, wurden in Gefängniszellen gesteckt, vielleicht für Jahre.“
Altuğ lenkt die Aufmerksamkeit aber noch auf einen anderen Prozess, in dem es um die Entscheidung der Türkei ging, aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen auszutreten: „Tausende von Anwältinnen, LGBTQIA- und Frauenrechtsaktivistinnen verteidigten die Konvention. Der Staatsanwalt des Staatsrats erklärte ebenfalls, dass der Austritt rechtswidrig sei und forderte den Rat auf, das Dekret zu annullieren. Das ist die Türkei: Sie bringt einen gleichzeitig zum Lachen und Weinen.“
Altuğ hat mit „Es geht uns hier gut“ eine Novelle über junge Menschen geschrieben, die nach den Gezi-Protesten das Land verlassen. Jetzt sagt er: „Es wird ein Tag kommen, an dem Gezi nicht mehr der Name eines Prozesses ist, sondern der Ort, an dem die Hoffnung beginnt. Wir werden die Bäume, die nicht gefällt wurden, Çiğdem, Osman, Mücella, Hakan, Mine, Can, Tayfun und Yiğit nennen. Diese Bäume werden länger leben, als wir alle es je könnten, und in jedem Frühling Hoffnung in der Stadt verbreiten.“
Botschaft der Einschüchterung
Burçin Tetik sieht ebenfalls Raum für Hoffnung: „Viele Künstler und queere Aktivisten sind nach 2016 nach Berlin gezogen. Ein Witz in der queeren Community ist, dass jetzt mehr LGBTQIA Menschen aus der Türkei in Berlin leben als in Istanbul.“
Dennoch hofft sie, dass die starken Verbindungen zwischen der Türkei und der immer größer werdenden Diaspora aufrechterhalten werden können. „Wir müssen Wege finden, um zusammenzuarbeiten und neue, unerwartete Räume zu schaffen, um zu denken, zu schaffen und uns gegenseitig zu unterstützen.“
Osman Kavalas Arbeit konzentrierte sich auf genau diese Zusammenarbeit. Er glaubte an zivile Kunst- und Kulturinitiativen, die dem Dialog dienen sollten, mit dem Schwerpunkt auf kultureller Vielfalt, kulturellem Erbe und Rechten. Das Gezi-Urteil ist verheerend. Es sendet eine Botschaft der Einschüchterung an Künstlerinnen, Künstler und Institutionen, die sich mit diesen Themen beschäftigen und ihre Meinung äußern. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie sich nun noch einmal für die Angeklagten von Gezi erheben – kämpferisch und voller Hoffnung.