Mehr Sonne als Regen

Moment mal, wo sind wir noch gleich? Wenn man am Donnerstagabend das XJazz Festival in Kreuzberg besucht, wird man zum Göteborger Hauptbahnhof gebeamt. Einzelne Kräne stochern in den nebelgrauen Himmel, das Bahngleis, auf das wir augenscheinlich von einem Zugfenster aus blicken, gleitet vorbei.

Die Filmsequenz, die an die Wand geworfen wird, passt zu dem Sound, den die vier Herren auf der Bühne des Lido kreieren: zurückhaltend, träumerisch, von flüchtiger Schönheit. Niemand tanzt, einige schließen die Augen, lassen sich zu den Worten Theo Crokers forttragen, die dieser ins Mikro haucht: „Where will you go? After the rain drops…”

Die Band gleitet nach dem Refrain in einen 6/8-Groove, auf den ausgebreiteten Klangteppich spritzt Croker vereinzelte, hallgetränkte Farbtupfer aus seiner Trompete. Keine Spur von Hastigkeit.

Bekannt wurde der 36-Jährige aus Florida als Ausnahmetalent an seinem Instrument. Letztes Jahr spielte er in der Berliner Philharmonie mit Mitgliedern des Orchesters das Tributkonzert „Sketches of Miles” zum 30. Todestag des Jazzriesen.

Stürmische solistische Ausflüge

Ohne den Vergleich mit dem Werk von Miles Davis künstlich bemühen zu müssen, lassen sich beim XJazz doch Parallelen ausmachen. Croker hat wie Davis einen weichen Touch, lässt seine Trompete dann und wann fast wie ein Flügelhorn klingeln. Auch beim Raum zwischen den Noten und den zurückhaltenden Verzierungen erinnert er an die Legende.

Seine Kompositionen vom neuen Album „BLK2Life / A Future Past“ werden durch das Keyboardspiel von Eric Wheeler angetrieben, der in teils stürmischen solistischen Ausflügen den Kontrapunkt zum aufgeräumten Bandsound bildet. Wobei das lebhafte Spiel Wheelers nie ins Harte abdriftet.

Das hat auch mit dem Instrumentarium vor ihm zu tun: ein elektrischer CP80-Flügel von Yamaha und ein Fender Rhodes, beides Instrumente, die mit ihren glockenartigen Keyboardsounds den Pop und Jazz der der 70er und 80er prägten.

Letzteres steht auch im Festsaal Kreuzberg auf der Bühne, wo Emma-Jean Thackray wenig später Kompositionen ihres letztes Jahr erschienenen Albums „Yellow” präsentiert. Wie Croker ist die 33-Jährige Engländerin an der Trompete zu Hause, wie er erkundet sie auf das Intensivste ihre Stimme als Medium.

“Be yellow, be mellow…”

Doch im Gegensatz zum US-Amerikaner setzt die aus Leeds stammende Musikerin mit ihrer Band auf einen pochenden Beat, der sich gleichermaßen bei Disco-Grooves sowie bei den Afrobeat-Patterns eines Tony Allen bedient. Thackrays Musik geht sofort in die Beine.

Ihre Band um den Schlagzeuger Dougal Taylor spielt auf einen tranceartigen Zustand hin, der Gemeinschaft stiftet durch Tanz und Gesang. Tanzen ist auch möglich, da das Konzerthaus erfreulicherweise nicht restlos gefüllt wurde. Man hat Lehren aus der Pandemie gezogen.

„Be yellow, be mellow, be kind to your fellow humans. We’re all made of sunshine“ lautet die Botschaft Thackrays. Die Gesangsfetzen ertönen als rhythmische Akkorde aus dem Gerät. „Ye-llow, Ye-llow” hört man immer wieder, von Thackrays so harmonisiert, dass man einen Solo-Chor der Engländerin wahrnimmt.

Am Mikrofon singt sie darüber Verzierungen, während andere Sounds aus dem Sampler drängen, darunter ein wankelnder Groove aus Klatschern, die synkopisch aufblitzen und gerade so schräg auf dem Takt landen, dass sie den Groove noch mehr schlittern lassen. Oder – im Jazz-Idiom gesprochen: ihn zum Swingen bringen.

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Auch bei Thackray ist es ein Keyboarder, der am Rhodes sitzt und die Band solistisch vorantreibt: Lyle Barton, der wie die Trompeterin in London lebt. Die Stücke Thackrays lehnen sich an den groovigen Jazz der 70er an, der jedoch bei aller Tanzbarkeit nicht minder tiefgründig sein muss, wie die Alben des Keyboardspielers Lonnie Liston Smith bewiesen haben.

Wie bei Smith kann man viele der Stücke Thackrays als moderne Adaptionen einer modalen Spielweise verstehen: Oft ist es ein „Vamp” aus einem oder wenigen Akkorden, der über dem treibenden Groove des Schlagzeugs liegt und eine klare Tonalität vorgibt, auf der die Solisten sich ausdrücken.

Dieser Vamp wird dann verschoben, oft einen Ganztonschritt auf- oder abwärts, was den Trance-Effekt beim Publikum verstärkt. So auch im Festsaal, wo das sehr junge Publikum begeistert eine Zugabe fordert.

Zurück ins Lido. Hier schließt der französische Pianist und Komponist Christophe Chassol den Festivaltag ab. Nicht nur Musik, sondern auch Videomaterial spielt eine zentrale Rolle in seinem Werk. Die Methode, von ihm „Ultrascoring” genannt, basiert auf Videoaufnahmen, die Chassol so vertont, dass das Zwitschern eines Vogels, das Dribbelns eines Basketballs oder die Rede eines Menschen zu musikalischen Phrasen werden.

Was ist Jazz? Wer gehört dazu?

Mit unheimlicher Präzision legt der Klangkünstler seine Töne auf die Ereignisse in den Filmaufnahmen. Aus diesen kreiert er wiederum Loops, zu denen er mit dem Schlagzeuger Mathieu Edward spielt. Beide bilden seit Jahren ein Duo.

Teils verschichten sich dabei die Erzählebenen auf atemberaubende Art miteinander. In einer Sequenz spielen Kinder auf einem Schulhof ein Klatschspiel, die Namen der drei Protagonistinnen werden zu rhythmischen Phrasen.

Dann taucht plötzlich Schlagzeuger Mathieu Edward in dem Video auf, hinter dem echten Edward, der nun zu seinem Alter Ego auf der Leinwand spielt, während Christophe Chassol dazu auf einem, klar: Rhodes-Keyboard soliert.

Die Performance des Duos ist weit entfernt vom Improvisationscharakter des Jazz – schließlich müssen sich selbst kleinste Phrasen dem Videomaterial unterordnen. Musikalische Freiheit gibt es kaum. Doch ist der höchst individuelle künstlerische Ausdruck Christophe Chassols so nah am Kern des Jazz, wie es nur möglich ist. Doch scheint es, als würden sich auf diesem Festival überhaupt nur wenige Menschen dafür interessieren, was Jazz ist und wer dazugehört. Vielleicht ist das auch besser so.