Fußball ist wie das Leben
Seit die Menschheit Fußball spielt oder sagen wir: seit Männer Fußball-Meisterschaften austragen, überhöhen wir das Spiel und erklären es zur Metapher fürs Leben und alles Sonstige, deuten jedes Tor und jeden Achillessehnenriss mindestens philosophisch.
Und was hatte uns nun die EURO 2020 zu sagen?
Sie begann ein Jahr verspätet und wurde ein rasantes Turnier. Das Glück kommt zu dem, der warten kann, das sagte einst mein Ressortleiter Heiner Schimmöller, und schon der hatte recht und unrecht: Er förderte und bremste zugleich, hielt uns zurück wie Joachim Löw seine Mannschaft, die nicht handelte, sondern wie ihr Trainer wartete, und worauf? Auf das Ende, und was für ein Leben ist das?
Hingegen ein Abend wie jener Montag, an dem Spanien Kroatien mit 5:3 schlug, ehe die Schweiz Frankreich zum 3:3 trieb und durch Elfmeter dann niederrang. Wenn der Fußball so ist, lehrt er uns neu, was wir in der Jugend schon wussten: Trau’ dich, hör’ niemals auf, Magie ist machbar. Was noch haben wir gelernt?
In der Welt des kommerziellen Sports ist Zugang kaum mehr möglich, was für eine rissfrei inszenierte Wirklichkeit sorgt, finanziert von Gazprom, in der es wenig Reportagen, Hintergrund, Enthüllungen gibt, dafür Gerede.
Zwei Erkenntnisse: Für gute Gespräche braucht es gute Fragen. Und wie großartig, wenn die „Süddeutsche“ trotzdem herauskriegt, dass der DFB ausgerechnet von Qatar Airlines zur nächsten WM, ausgerechnet in Katar, geflogen werden will. Für „Human Rights“ macht sich die Nationalelf stark, und Neuer trägt den Regenbogen? Viel Freude in Katar.
Wie verrückt konnten wir Europäer sein?
Was ich vergessen hatte: Mit der Idee eines europaweiten Turniers hat der einstige UEFA-Präsident Michel Platini verhindert, dass diese EM an die Türkei ging. Wie schlau, damals. Wie schamlos jedoch, wie eiskalt und zynisch, heute und mitten in der Pandemie dieses Konzept durchzurammen. Möglich oder eher wahrscheinlich, dass wir im Herbst sagen werden: Wie verrückt konnten wir Europäer sein?
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Mein Dialog des Turniers, ebenfalls aus der „SZ“: Javier Cáceres im Gespräch mit Nick Hornby. Hornby: „Ich bin überrascht, dass Sie die Terminologie des Spiels nicht verstehen. Harry Kane hat kein Elfmetertor erzielt. Er traf, als der Ball frei war. Der Elfmeter trug sich in Phase 1 der Bewegung zu. Das Tor fiel in Phase 2. Der Elfmeter war also in etwa so relevant wie, sagen wir, die Entscheidung, 20 Minuten vor dem Elfmeter einen Eckstoß zu geben. Ja, der Elfmeter war Teil der 120 Minuten, aber wie alles andere, das sich zutrug.“ Cáceres: „Ist das jetzt britischer Humor?“ Hornby: „Wenn Sie es lieber ausdrücklich wollen: Es war niemals ein Elfmeter.“
Das legendär faire wie erfolglose England erblüht und verzeiht sich in neuer Stärke eine Schwalbe, verzeiht sich, dass seine Fans gegen deutsche und dänische Hymnen anpfeifen. Stimmig wird dieses Bild nur durch Weglassen. Was für eine Geschichte des Zusammenhalts, der Romantik war die dänische! Die italienische! Und ich liebe diese Deutungen, die hinterher und im festen Glauben ans Kausale im Menschsein verfasst werden.
Es hätte anders kommen können. England sah, nach drei lausigen Vorrundenspielen, Thomas Müller aufs Tor zu rennen – und was, wenn dessen Schuss 20 Zentimeter weiter rechts gelandet wäre? Was, wenn Arnautovic nicht mit dem Zeh im Abseits gestanden hätte? Was würden wir einander dann erzählen?
[Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de.]
„Wir erzählen uns Geschichten, um leben zu können“, schrieb Joan Didion, wir interpretieren unsere Irrwege zu einer Reise, einer Biografie zurecht, all die Niederlagen, die Zufälle. Fußball ist wie das Leben. Und genau das sagten wir doch.