Kultur als Waffe im Ukraine-Krieg: Die Seele der Puschkinisten

Die Autorin ist eine russische Journalistin, die als Kolumnistin für die oppositionelle Zeitung „Nowaja Gaseta“ gearbeitet hat. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sie das Land verlassen. Sie lebt jetzt in Berlin und nimmt an einem Journalistenprojekt des Tagesspiegels teil.

Zwei Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine nahmen russische Truppen die Stadt Cherson ein. Fast als Erstes stellten sie eine riesige Plakatwand mit dem Porträt von Alexander Puschkin auf, dem „wichtigsten“ russischen Dichter, der als Erfinder der modernen russischen Sprache gilt.

Schon am Ende des 19. Jahrhunderts (Puschkin starb 1837 in einem Duell) hieß es über Puschkin, er sei „unser Ein und Alles“ – die ideale Verkörperung der russischen Kultur und der „russischen Seele“. Jetzt markiert diese „Seele“ die eroberten Gebiete.

Sie hätten einfach Putin auf Werbetafeln zeigen können

Wären der russische Staat und seine PR-Leute direkter, hätten sie einfach Putin auf diesen Werbetafeln zeigen können. Das wäre eine einfache politische Aussage. Puschkin jedoch steht nicht für Politik, sondern für Kultur, für genau die „russische Welt“ (wie Putins Ideologen die Einflusszone der russischen Zivilisation nennen), für die der Krieg in der Ukraine geführt wird.

Die ukrainische Wahrnehmung der Ereignisse stimmt weitgehend mit dieser Idee überein, natürlich unter umgekehrten Vorzeichen. Die Ukraine kämpft nicht nur gegen die Einnahme von Gebieten, sondern auch gegen den russischen Einfluss und die Expansion der russischen kulturellen Identität. Seit der Eroberung von Cherson bekamen die russischen Besatzer, die sonst in der Ukraine „Raschisten“ genannt werden, einen neuen Spitznamen: „Puschkinisten“.

Dass die Wahl ausgerechnet auf Puschkin fiel, ist nicht überraschend. Innerhalb der russischen Kultur ist der literarische Kanon der wichtigste – erstens, weil er mit der Sprache verbunden ist, und zweitens, weil er fast die gesamte Bevölkerung des Landes erreicht. In der Sowjetunion und später in Russland war Literatur kein Hobby, sondern eine Pflicht, und bis vor Kurzem noch obligatorisches Prüfungsfach in der Schule.

Statt Unterricht. Eine Kiste mit Munition im Schulgebäude des Dorfes Oleksandrivka.
Statt Unterricht. Eine Kiste mit Munition im Schulgebäude des Dorfes Oleksandrivka.
© Konstantin Mihalchevski/IMAGO

Die Hierarchie der russischen Literatur wurde offiziell im Lehrplan verankert. Dieser Lehrplan hat sich nicht nur seit meiner Kindheit kaum verändert (ich machte meinen Schulabschluss kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion), sondern bereits seit der Kindheit meiner Mutter (sie beendete die Schule im Todesjahr Stalins).

Meine Kinder erlebten ungefähr dasselbe im Unterricht wie sie. Natürlich wurden in den 90er Jahren einige sowjetische Schriftsteller aus dem Lehrplan entfernt und bisher verbotene wie Solschenizyn hinzugefügt. Doch im Großen und Ganzen blieb der literarische Kanon in Russland – einem multinationalen Land – eine Liste von Männern, die in russischer Sprache schrieben.

In der Sowjetunion, in der die Gleichheit und Brüderlichkeit der Völker und dementsprechend auch ihrer Kulturen Teil der offiziellen Ideologie gewesen ist, war der Kanon ähnlich russozentrisch. Die nationalen Autoren der Republiken erschienen als grelle, aber unbedeutende Figuren, die sich auf den Sockeln von Tolstoj und Dostojewski niederließen.

Russland hat die imperialen Praktiken nie aufgegeben

Tatsächlich haben weder die UdSSR noch ihr Nachfolger Russland jemals die imperialen Praktiken aufgegeben. Erklärungen über die Gleichheit aller Völker, Sprachen und Kulturen in der Sowjetunion waren zum größten Teil Heuchelei – Material für den Bericht vom Parteikongress der KPdSU. Erfolg konnte man nur haben, wenn man sich dem „großen“ Narrativ der russischen Kultur anschloss, das in der Sowjetzeit ein bisschen durch einige obligatorische kommunistische Slogans verschönert wurde.

Putins Russland hat dies fortgesetzt und verstärkt, auch ohne das heuchlerische Gerede von universeller Gleichheit. Das war leicht möglich, denn die Priorität des russischen Kanons wurde nie kritisch hinterfragt. Mehr noch – dieser Kanon vereinte und vereint bis heute ideologische Gegner in Russland.

In der Sowjetunion war die klassische russische Kultur einerseits ein Zufluchtsort der Dissidenten, ein seltenes Gebiet, in dem es fast nichts „Sowjetisches“ gab. Sie war fast das Einzige, worauf man stolz sein konnte. Andererseits diente sie als offizieller Beweis für die Suprematie „unserer sowjetischen Kultur“, die als Fortsetzung der „großen russischen Kultur“ erschien.

In Putins Russland wiederholt sich diese Doppeldeutigkeit. Für Andersdenkende ist die „große russische Kultur“ ein geläufiges Ventil und sogar eine Art Ausrede. Unfreiheit, Mord, Gewalt wie am Fließband, Armut – aber wenigstens haben wir „Tolstojewski“.

Putin, so könnte man sagen, macht sich diesen Ansatz parasitär zunutze. Die „große russische Kultur“ ist ein vaterländisches Produkt, das im Grunde nie umstritten war und das als solches zum eigenen Vorteil genutzt werden kann.

Die Reklametafeln mit Puschkin warben übrigens nicht nur für die Einnahme von Cherson durch russische Besatzungstruppen, sondern auch für eine Abstimmung über Verfassungsänderungen. Für genau die Änderungen, die Putin die unbegrenzte Macht sicherten.

Als ich diese Werbung zum ersten Mal sah, dachte ich, dass sie mich an irgendetwas erinnert. Schnell fiel mir ein, woran. An dem Tag, an dem in der Sowjetunion die Kinder bei den „Pionieren“ (der kommunistischen Jugendorganisation) aufgenommen wurden, konnte man auf vielen Schulhöfen eine Büste von Putin mit rotem Pioniertuch sehen. Damals kam das mir, einem Mädchen, lächerlich vor. Heute denke ich, das war beängstigend.

(Aus dem Russischen übersetzt von Claudia von Salzen)

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