Deutsche Turnerinnen setzen Zeichen gegen Sexualisierung

Sarah Voss ahnte, dass sie die Blicke der Konkurrenz auf sich ziehen würde. In der Aufwärmhalle der Kunstturn-Europameisterschaften von Basel hatte die deutsche Mehrkampfmeisterin deshalb lange damit gewartet, bis sie das Outfit präsentierte, in dem sie am Mittwochmorgen den Qualifikationswettkampf dieser Einzeltitelkämpfe in der Schweiz bestreiten wollte.

Als die deutsche Mehrkampfmeisterin sich zwei Stunden später, nach ihrem Auftritt, in der virtuellen Mixed Zone den Fragen der Journalisten stellte, da zeigte sie sich „stolz darauf, dass ich die Erste war“.

In einem schwarz-rot-weißen Ganzkörperanzug war die 21 Jahre alte Kölnerin an den Schwebebalken und zum Sprung gegangen, auf diese Geräte muss sie sich aufgrund einer “holprigen Vorbereitung” mit zweiwöchiger Corona-Quarantäne bei ihrem ersten internationalen Wettkampf nach eineinhalb Jahren pandemiebedingter Zwangspause beschränken. Der glitzernde Stoff, ein eigens für die Trägerin kreierter Entwurf, reichte am Bein bis zum Knöchel.

In der Rhythmischen Sportgymnastik sind derartige Trikots öfter zu sehen. Bei den Bewegungskünstlerinnen an Stufenbarren und Schwebebalken bilden sie die große Ausnahme. „Bei der letzten Weltmeisterschaft hat nur eine Turnerin so einen Anzug getragen“, sagte Bundestrainerin Ulla Koch.

Einem Kulturwandel steht nichts entgegen

Die drei routinierten Athletinnen in ihrer Riege wollen mit der ungewöhnlichen Kleiderwahl, die die deutsche Rekordmeisterin Elisabeth Seitz und ihre Stuttgarter Trainingskollegin Kim Bui ihrerseits für den möglichen Auftritt im Mehrkampffinale am Freitag planen, ein Statement gegen die Sexualisierung in ihrer Sportart setzen. Die Form der üblichen, eng anliegenden Trikots, die vom Schnitt her Badeanzügen ähneln, ist ihnen schon länger ein Ärgernis und unangenehm.

Der knappe Stoff am Übergang zu den Beinen verrutscht beim Spreizen, Grätschen oder anderen turnspezifischen Bewegungen leicht. Dadurch ist manches Mal mehr zu sehen, als es sein sollte. Bilder, die das festhalten, werden veröffentlicht. „Schönes Turnen hat nichts damit zu tun, dass man das auch geil findet“, ließ sich Seitz kürzlich in einem Interview zu dem Thema zitieren.

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Gerne würden Voss und ihre Kolleginnen einfach nur ihr Können demonstrieren, ohne daran denken zu müssen, ob der Body richtig…Foto: dpa/ Georgios Kefalas

Gerne würden die 27-Jährige und ihre Kolleginnen einfach nur ihr Können demonstrieren, ohne daran denken zu müssen, ob der Body richtig sitzt. Immer wieder sieht man Turnerinnen nach ihrer Übung, am Boden manchmal sogar währenddessen, wie sie ihr hochgerutschtes Dress herunterziehen. Anzugkleber, die das Material an der richtigen Stelle halten sollen, funktionieren nur begrenzt.

Einem Kulturwandel, wie ihn das deutsche Nationalteam anstrebt, steht nichts entgegen. Die internationalen Wertungsvorschriften erlauben ausdrücklich ein entsprechendes Dress: Es muss nur sportlich korrekt, undurchsichtig und mit einem eleganten Design versehen sein. Wie das aussehen könnte, darüber hatten sich Koch und ihre Sportlerinnen bereits im vergangenen Sommer Gedanken gemacht. Anlass war, dass eine Turnerin zur Teamchefin kam und erklärte, sie fühle sich nackt mit dem Gewohnten. Daraufhin habe man gemeinsam einiges ausprobiert, bevor jede sich ihr eigenes Modell entwerfen ließ. „Ich fühle mich darin wohl, und es ist super bequem“, sagte Voss.

Hoffen auf Nachahmer

Nach neugierigen Blicken seien die ersten Feedbacks positiv gewesen. „Einige Mädchen finden, man sieht damit eleganter und größer aus“, sagte die Weltmeisterschaftssiebte am Schwebebalken, die diesmal mit zwei Absteigern jede Chance auf einen Finaleinzug vergab .

Für den Nachwuchs wollen die Topathletinnen des Deutschen Turner-Bundes (DTB) Vorbilder sein und zeigen, dass es im Kunst- und Gerätturnen auch andere Wege als die traditionellen gibt, schön auszusehen. Zudem hoffen sie sich auf internationaler Ebene auf Nachahmer. „Wir haben einen Anstoß gegeben und würden uns freuen, wenn wir einen Trend gesetzt haben sollten.“

Ob sie bei den Olympischen Spielen in Tokio, bei denen die Mannschaft anders als bei dieser Einzel-EM einheitlich auftreten muss, die neue Kollektion vorführen werden, steht noch nicht fest. „Wir warten jetzt erst mal die Reaktionen ab“, sagte die Bundestrainerin. „Dann werden wir weitersehen.“