Eine Primadonna verzaubert ihr Publikum
Sind das immer noch Nachwehen der Pandemie? Große Teile des Publikums haben es offenbar vorgezogen, zu Hause zu bleiben, die Berliner Philharmonie ist nicht mal zur Hälfte verkauft, ganze Blöcke gähnen leer.
Nun ja. Schließlich ist das Klavierlied eine intime Gattung für eingeschränkte Öffentlichkeit. Seine erste Blüte verdankt es der halb noch aristokratischen, halb schon bürgerlichen Salonkultur einer Umbruchzeit. Liederabende, ins Hier und Jetzt verlegt und in einen großen Konzertsaal verpflanzt, funktionieren nur, wenn ein berühmter Gast singt, der Distanzen auch im Pianissimo zu überwinden weiß. Eine Primadonna Assoluta. Eine, wie die Yoncheva.
Vor wenigen Tagen trat sie mit den Berliner Philharmonikern unter Petrenko bei den Osterfestspielen in Baden-Baden auf, als „Jolanthe“ in Tschaikowskys gleichnamiger Oper: eine Paraderolle. Nun kam Sonya Yoncheva nach Berlin, um das erste Klavierlied-Recital ihrer Karriere vorzutragen. Zwanzig kleine Lieder, teils französische, teils italienische hat sie mit ihrem Klavierpartner Malcolm Martineau erarbeitet, lauter Raritäten: eine Pioniertat.
Nach Sekunden ist der Saal elektrisiert
Das geht los mit „L’Invitation au voyage“ von Henri Duparc, nach Baudelaire. Das Lied ist noch keine halbe Minute alt, mit seinen hypnotisch durchlaufenden Begleitformeln, über denen die Stimme in duftigem Parlando geheimnisvolle Wortzauber legt, da scheint sich der Riesensaal schon zu verkleinern. Die weitläufige Leere der Weinberge schnurrt zusammen, alles fokussiert sich auf den Lichtkegel der Bühne, dorthin, wo die Yoncheva am Flügel steht. Sie singt ohne jede Spur von Anstrengung, strahlend, in leicht erreichten Spitzentönen, mit balsamischem Timbre, glasklarer Intonation und zierlich dosierter mezza di voce. Singt von Utopia oder von Venedig, einer fremden Stadt in Purpur und Gold, mit Kanälen und Boten, Luxus und Genuss. Als sie fertig und das Lied aus ist, hängen wir alle restlos begeistert am Seidenfaden dieser vollendeten Kunst.
Drei weitere Lieder von Duparc erzählen von exotistischen Sehnsüchten, Schmerz und Trauer, in symbolistischen Bildern und agogischen Wendungen. Diese Fülle an Schönheit ist kaum auszuhalten. Gut, dass Yonchevas weichwolkiges Französisch kaum harte Konsonanten kennt. So exakt ihre musikalische Artikulation, so verschwommen die Aussprache. Man versteht, auch in den drei „mélodies“ von Ernest Chausson und den Liedern von Donizetti sowie dem Schlager „Les Filles de Cadix“ von Leo Délibes, nur ungefähr, worum es geht.
Standing Ovations zum Schluss
„Haï luli“ von Pauline Viardot-Gracia ist immerhin so leidlich bekannt, dass es den ersten Zwischenapplaus auslöst. Und nach der Pause wird es dann deutlich textverständlicher. Das Programm lappt ins Feurig-Dramatische, auch die Yoncheva agiert halbszenisch. Hier, in den italienischen Canzoni ist sie zu Hause. Puccinis kleines Lied „Sole e amore“ serviert sie fast lässig, fehlt nur noch der Kaktus. Verdis „Ad una stella“ ist ein Juwel.
Viermal hat diese vielseitige, kluge Sängerin ihr neues Programm schon anderswo ausprobiert. Erst in der Provinz, in Beaver Creek. Dann in Bukarest, an der Met und im Salle de Gaveaux in Paris. Überall, so wird berichtet, gab es volle Häuser, glanzvolle Kritiken. Auch in Berlin will man sie am Ende nicht gehen lassen und applaudiert im Stehen.
Sonya Yoncheva lacht, sie dreht sich um zu den blitzleeren Blöcken H, K und G und wirft Kusshändchen ins Nichts. Dann serviert sie drei Zugaben, bei denen Malcom Martinau sich zum getreuen Korrepetitor wandelt: Mimis Abschied aus „La Bohème“, die Habanera aus „Carmen“ und Manons „Adieu notre petite table“.