Anrufung des Himmels aus der Unterwelt

Eben noch Kairo, zuvor São Paulo, dazwischen New York und Amsterdam. Mal virtuell als Livestream, mal als vorproduziertes Video, mal leibhaftig nach Berlin importiert: Das Jazzfest schaltet sich im Stundentakt durch die Kulturen und Kontinente. Abgesehen davon, dass auch die pandemische Not die hybride Präsentation erzwingt, offenbart sich im schnellen Wechsel eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die man als selbstverständliche Signatur des Zeitalters lesen kann wie als ästhetischen Gewaltmarsch.

Die Musik reagiert darauf, indem sie Brüche und Kontraste offen auskostet, indem sie sich ihr jeweiliges Pidgin zurechtknetet oder tatsächlich eine neue Sprache findet. Das Publikum im Silent Green, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder am heimischen Rechner muss anders mit dieser Simultaneitätserfahrung umgehen. Durch die festivalübliche Parallelität vieler Konzerte stellt sich ein zusätzliches Moment von Überforderung ein: Immer wieder drängt sich das leise Gefühl auf, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, weil das wirklich Wichtige womöglich nebenan geschieht.

In den Quartbergen von McCoy Tyner

Und dann, am Ende der vier Tage, das Glück, Teil von etwas zu sein, das sich jetzt und nur jetzt ereignet, hier und nur hier in der Betonhalle des Silent Green, obwohl man es sich noch einmal on demand vergegenwärtigen könnte. Der Soloauftritt des Pianisten Nduduzo Makhathini aus Johannesburg, dem dritten offiziellen Außenposten des Jazzfests, ist ein charismatisches Wunder.

Ansteckend die Verzückung, mit der der er durch seine schwelgerischen Kompositionen rollt, sie mitsummt und mittanzt. Raumfüllend die Freude, mit der er auch lässig nachlässig hingepfatschte Töne zum Klingen bringt. Rein musikalisch hat man es mit einem Klon des verstorbenen McCoy Tyner zu tun, der mit Wucht und Zurückhaltung modale Quartberge vor sich aufhäuft und wieder zur Seite räumt: John Coltranes Album „A Love Supreme“, auf dem auch Tyners mitspielt, hat Makhathini, der sich selbst als Heiler sieht, geprägt. Die Bantu-Spiritualität, mit der er diesen im Grunde überkommenen Stil auflädt, holen ihn in eine afrikanische Gegenwart, in der er nicht Zitat ist, sondern eine mit jeder Muskelfaser aufgesogene Sprache.

Trompeter Dave Douglas mit einer Uraufführung

Auf andere Weise aus der Zeit heraus und mitten in sie hinein springt der New Yorker Trompeter Dave Douglas mit der Uraufführung seiner Suite „Secular Psalms“. Die 600 Jahre alten Tafeln von Jan van Eycks Genter Flügelaltar nach der Offenbarung des Johannes haben ihn zu Stücken inspiriert, die den apokalyptischen Strömungen unserer Zeit gerecht zu werden versuchen.

Musik kann nur die Grundstimmung dieser Kunst aufnehmen, nicht deren Motive. Im Evozieren einer untergangsbedrohten Schönheit kommt Douglas recht weit: Seine Kompositionen schlagen einen Bogen zwischen Guillaume Dufay entlehnten Renaissance-Elementen und einem zu vielfachen Rhythmuswechseln neigendem kammermusikalischen Jazz, großen Melodiebögen und geräuschhaften Passagen.

Instrumente wie ein Serpent (Berlinde Deman) oder ein Harmonium (Marta Warelis) treffen auf ein freigeistiges Cello (Tomeka Reid), das den Bass ersetzt, oder Frederik Leroux’ Laute und elektrische Gitarre.

Zusammengehalten wird das Ganze von Antoine Pierres federnd-elegantem Schlagzeugspiel. Was dieser faszinierenden Musik bei allem fehlt, was sie an Intelligenz und Virtuosität im Übermaß besitzt, ist die religiöse Inbrunst, die sie verspricht. Wie weltlich ihre Anrufungen und Gebete auch ausfallen mögen – ohne eine Dringlichkeit, die sich nicht über Jan van Eycks Gemälde vermittelt, verpufft sie als kunsthistorische Hommage.

Tosende Weltuntergangswelle

Die unterweltliche Düsternis, die „Seven Storey Mountain VI“, ein Langzeitprojekt des New Yorker Trompeters Nate Wooley verstrahlt, ist da von anderem Kaliber. Für ihre kathartische Wirkung sind weder die ohrenbetäubenden Klangwände allein verantwortlich, die er mit einem in fast allen Positionen doppelt, im Schlagzeug sogar dreifach besetzten Ensemble und einem weiblichen Gesangssextett hochzieht, noch der Ort: die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Es ist die sich mit unwahrscheinlicher Wahrscheinlichkeit aufbauende Weltuntergangswelle, die aus sanften Vokalisen von der Empore und Besengeraschel in einen ekstatischen Krach hineinwächst, bevor sie nach einer knappen Stunde in sich zusammenfällt.

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Nur anfangs hört man noch die Schlieren von Susan Alcorns Pedal-Steel-Gitarre und die in Rückkopplungen jaulende Granatwerfergitarre von Julien Desprez. „You can’t scare me“ heißt die Bobbie McGees Song „Union Maid“” abgehörte Litanei, die dieser Teufelsaustreibung ihren hoffnungsvollen Ausklang gibt.

Diese Musik kommt aus dem maximalistischen Minimalismus, den Glenn Branca einst mit seinen Gitarrenschreddersymphonien betrieb. Auch sie hat, säkular gewendet, ihre religiösen Wurzeln. Ihr Titel geht zurück auf „Der Berg der sieben Stufen“, das berühmteste Buch des amerikanischen Mystikers und Trappistenmönchs Thomas Merton.

Internationale Berliner Musiker an den Instrumenten

Es ist ein Kennzeichen dieses nun im vierten Jahr von Nadin Deventer kuratierten Festivals (zusammen mit Maurice Louca für Kairo, Juliano Gentile und Manoela Wright für São Paulo und Jess White für Johannesburg), dass es seine Internationalität auch dadurch gewinnt, dass zumal größere Ensembles auch auf die Ressourcen der deutschen Szene zurückgreift, in der ohnehin längst die halbe Welt zu Hause ist.

Bei Nate Wooley sitzt der Berliner Australier Steve Heather mit am Schlagzeug, und einheimische Sängerinnen gehören zum Chor. Die brasilianische, derzeit in Duisburg lebende Schlagzeugerin und Sängerin Mariá Portugal rekrutiert für ihr Projekt „Erosão Viva“ die Saxofonistin Angelika Niescier oder den Electronics-Künstler Korhan Erhel. Für eine deutsch-skandinavische Band wie Koma Saxo ist auch ohne Festival längst kleiner Grenzverkehr.

Nun ist ein Jahr lang Zeit, alle Reichtümer dieses Festivals bei arte Concert und auf der Seite der Berliner Festspiele nachzuhören. Doch Vorsicht: Live-Erlebnis und Aufzeichnung unterscheiden sich im Bösen wie im Guten. Von den miserablen akustischen Verhältnissen, die im Pierre Boulez Saal für verstärkte Musik herrschen, gibt der fein ausgesteuerte Fernsehsound keinen authentischen Eindruck mehr. Und wer Nduduzo Makhathinis ganze Magie erleben will, tut das ohnehin am besten, indem er ihm nach Südafrika hinterherreist.