Potsdamer Winteroper: Sternstunde in der Novembernacht
In der Astronomie würde man das, was sich am Freitagabend im Schlosstheater von Sanssouci ereignet hat, eine Konstellation nennen: ein seltenes Zusammentreffen mehrerer Himmelskörper am Firmament. Vier Sterne leuchten hell bei der diesjährigen Premiere der Potsdamer Winteroper. Der erste ist das Stück selbst. Kennern und Liebhabern sagt der Name Domenico Cimarosa wohl etwas, die meisten jedoch dürften nie von ihm gehört haben – obwohl er rund 80 Buffas komponiert hat.
Eine einzige davon wird regelmäßig inszeniert, konstant seit ihrer Uraufführung im Februar 1792 im Wiener Burgtheater, und das völlig zurecht: „Il matrimonio segreto“ („Die heimliche Ehe“) ist sowohl musikalisch als auch librettistisch ein kleines Wunderwerk, auch Goethe erwähnt es in der „Italienischen Reise“.
Archäopteryx der Operngeschichte
Man meint sofort, Rossini stünde vor der Tür bei den langen, sich sukzessive beschleunigenden Bögen der Ouvertüre. Cimarosa gilt als Archäopteryx der Operngeschichte, als Bindeglied zwischen Mozart – der nur zwei Monate vor der Uraufführung gestorben war – und den italienischen Komponisten des Belcanto. Dirigent Attilio Cremonesi, der mit der Kammerakademie Potsdam den zweiten Stern bildet, serviert das dem Potsdamer Publikum auf dem Silbertablett.
Der ehemalige Assistent von René Jacobs leitet das Geschehen quicklebendig und fröhlich, juvenil in der Gestik und mit einer spürbaren Freude und Lust, die sich ins Publikum fortpflanzt. So hält er den Erregungspegel hoch und bildet zugleich durch ausgewogene Tempi eine verlässliche Basis für die Sängerinnen und Sänger.
Auf dem Papier liest sich die Handlung so, als hätten wir es mit einer weiteren barocken Liebes- und Verwechslungskomödie zu tun, die sich irgendwann in Wohlgefallen auflöst. Das ist auch so, und doch ist „Il matrimonio segreto“ anders. Der Humor ist diesem Werk (das Librettist Giovanni Bertati aus einem älteren englischen Stück von George Colman und David Garrick destilliert hat) tief eingesenkt, nicht aufgesetzt oder behauptet wie bei Verdis 100 Jahre später entstandenem „Falstaff“, bei dem die Witze so rasant vorüberfliegen, dass sie über die Köpfe von Nicht-Muttersprachlern einfach hinwegziehen und vor allem Unverständnis zurücklassen.
Cimarosa geht langsamer vor, arbeitet viel mit Wiederholungen, was dem Ganzen eine fast becketthaft anmutende Modernität verleiht. Wozu auch der teilweise großartige Text beiträgt: „Solange Sie leben, werden Sie sie heiraten“, schreit der reiche Kaufmann Geronimo dem Grafen Robinson entgegen.
Was ist passiert? Geronimo möchte unbedingt einen Adelstitel, also verkauft er seine ältere Tochter Elisetta an den Grafen. Dumm nur, dass dieser bei seinem ersten Besuch die jüngere, Carolina, viel anziehender findet. Und noch viel dümmer, dass diese bereits – heimlich – verheiratet ist mit Paolino, dem Gehilfen. Auf den wiederum Geronimos Schwester Fidalma abfährt, die Tante der beiden Töchter. Alles klar?
Regisseurin Adriana Altaras, der dritte Stern, haucht diesem Konstrukt pralles Leben ein, inszeniert das spektakulär gut. Ihre Arbeit ist von einer tiefen Liebe zu den Figuren getragen, jeder schenkt sie Zuwendung, Aufmerksamkeit und ein eigenes Profil, kein Augenblick bleibt uninszeniert, ständig passiert etwas. Es sind die Details, die diesen Abend so liebenswert machen.
Nur ein Beispiel: Die Bühne (Matthias Müller spiegelt quasi das Schlosstheater, bricht den barocken Zauber aber mit charmanten Anleihen an die 50er Jahre, bei den Lampen oder mit einer Kaffeemaschine) wird ständig zum Dancefloor. Altaras kitzelt die eminent rhythmischen Qualitäten dieser 250 Jahre alten Musik heraus, was Tante Fidalma, die Paolino zuvor explosionsartig ihre Brüste präsentiert hat, mit einem gehörigen Hexenschuss bezahlen muss – ein Augenblick nur, er zieht vorüber. Doch davon gibt es Hunderte.
Der Graf will die vereinbarte Braut nicht. Kann es einen peinlicheren, unerträglicheren Moment geben? Cimarosa greift an diesem Scheitelpunkt zu einem Stilmittel, das in der Oper besonders gut Wirkung entfaltet: Das Geschehen wird stillgestellt, quasi eingefroren, in einem Quartett singen alle Beteiligten, was ihnen gerade in den Kopf schießt. In der Realität würde das simultan und innerhalb von Millisekunden passieren, die Oper kann es breit auswalzen, ohne dass es unnatürlich wirken würde.
Dann reißt der Graf plötzlich eine der Statuen von der Wand, Elisetta schleckt einen Lolli, Fidalma dreht wirr an ihren Spaghetti, die an diesem Abend ein wiederkehrendes Requisit sind: auf den ersten Blick unverständliche Aktionen, die nichts anderes sind als Übersprunghandlungen, um einer unerträglichen Situation wenigstens geistig zu entfliehen. Mit ihrer psychologischen Inszenierung eines sowieso schon psychologisch starken Stücks erinnert Altaras quasi nebenbei auch daran, dass Spaghetti ein unterschätztes, hochinteressantes Symbol sind: für Sexualität natürlich, wie alle Nudeln, für Genuss und Lust, aber auch für Verwirrung und Verknotung, als Schlinge und Schicksalsseil.
Beim vierten Stern, den Sängerinnen und Sängern, fast alle Italiener oder in Italien lebend, möchte man kaum einen einzelnen, eine einzelne hervorheben. Alle leisten sie Außerordentliches, verschmelzen mit ihrer Figur, feuern Koloratursalven ab oder rühren an. Es sind vielschichtige Charaktere, so Anna Maria Sarra als ältere, verschmähte Schwester mit grandiosem Mienenspiel, die nicht akzeptieren kann, dass der Graf sie nicht liebt, und von „Betrug“ faselt – dass die beiden am Ende doch zusammenkommen, ist zwar erwartbar, aber dramaturgisch schlecht erklärt, die einzige Schwäche des Stücks.
Im Zentrum des Wirbelsturms steht die jüngere Schwester: Theodora Raftis versteht es auf einzigartige Weise, mit einer simplen Drehung der Pupillen eine ganze Geschichte zu erzählen, sie singt quasi mit den Augen. Marc-Olivier Oetterlis Vater Geronimo ist ein erratischer, kauziger, Helge-Schneider-artiger Alter, der wenig begreift und dessen Textzeilen sich meistens beschränken auf „Was soll das heißen“ oder „Was sagst du dazu?“ – aber als solcher, in seiner ganzen Unverständlichkeit, ebenfalls eine spannende Figur ist. Die Regisseurin stattet ihn mit riesigen Kopfhörern aus, was sein Nicht-von-dieser-Welt-Sein noch verstärkt.
Auch Rosa Bove als spätentflammte Fidalma, Christian Senn als Macho-Graf und Manuel Amati als chaplinesker Paolino liefern starke, eindringliche Rollenporträts. Sie alle tragen dazu bei, dass sich in der Potsdamer Novembernacht eine kleine Opernsternstunde ereignet. Und weil so etwas etwa so selten ist wie ein Komet, darf derjenige glücklich genannt werden, der seine Termine umschichten kann, um noch eine der Aufführungen im November zu besuchen.
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