Hassen ist so einfach

Manchmal besteht eine Ewigkeit bloß aus ein paar Sekunden. Im Autoradio läuft Musik, die Mutter singt mit, der Vater dreht sich um zum Sohn auf der Rückbank und spottet: „Alex, aber Mama singt total falsch, was?“ Sie lachen, die Mutter singt windschief weiter, bis der Vater bremst und vergeblich versucht auszuweichen. Dann kommt dieser Moment, der niemals wieder aufhören wird. Die Schnauze eines Lieferwagens bricht durch die Tür, die Scheiben zerspringen in tausend Teile. Was folgt, ist eine endlose Stille, während „die Straße zum Himmel wird und zum Fluss, und dann Schwärze, die uns nach unten zieht“.

Alex, der 16-jährige Held von Gabriele Climas Roman „Der Geruch von Wut“, hat nach dem Unfall, bei dem das Auto seiner Familie im Fluss gelandet war, einen Herzstillstand überstanden und acht Wochen im Koma gelegen. Sein Vater ist gestorben und die Mutter sitzt seitdem im Rollstuhl. Aber Alex hat überlebt. Nur wird er immer wieder eingeholt von der Erinnerung an das Lied im Autoradio, an die Straße, den Fluss und die Schwärze. Die Flashbacks vermischen sich mit Träumen, in denen ihm sein toter Vater erscheint und ihn auffordert, einen Namen für seinen Schmerz zu finden.

Überfall als Mutprobe

Alex glaubt zu wissen, wie dieser Name lautet: Moussa Mbaye. So heißt der Fahrer des Lieferwagens, ein Migrant mit afrikanischen Wurzeln. Für Alex trägt dieser Mann die Schuld am Tod seines Vaters, deshalb will er ihn suchen und „dafür bezahlen lassen“. Sein martialischer Ton passt zum Weltbild der Black Boys, einer Jugendgang, mit deren Anführer Ferenc ihn sein Schulfreund Teo bekannt gemacht hat.

Ferenc will Alex helfen, „den Bastard zu jagen“. Allerdings muss Alex eine Mutprobe bestehen, um in die Gruppe aufgenommen zu werden: Er soll den schwarzen Flüchtlingen, die in einer ehemaligen Brauerei untergekommen sind, „eine Lektion erteilen“.

Mit der Szene, in der er auf einen der Obdachlosen einprügelt, bis der keinen Laut mehr von sich gibt, beginnt das Buch. Die Black Boys haben sich nach den schwarzen Hemden benannt, die Mussolinis Faschisten trugen. Bei ihnen herrschen die Regeln es Kadavergehorsams. Wer aussteigen will, begibt sich in Lebensgefahr.

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Gabriele Clima, 1967 in Mailand geboren, gehört zu den erfolgreichsten italienischen Jugendbuchautoren. Sein Roman „Der Sonne nach“ über die Freundschaft zwischen einem Schulrandalierer und einem Rollstuhlfahrer war auch in Deutschland ein Bestseller. In „Der Geruch von Wut“ erzählt er mit den Mitteln eines Thrillers davon, wie ein Jugendlicher, der sich nie für Politik interessiert hat, in den Rechtsextremismus abrutscht.

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Vorangetrieben wird die Handlung von einem doppelten Kriminalplot. Alex durchkämmt die Stadt nach dem Mann, den der für den Mörder seines Vaters hält, und gleichzeitig wird nach ihm gefahndet. Denn bei seinem Angriff auf den Obdachlosen gab es einen Augenzeugen.

[Gabriele Clima: Der Geruch von Wut. Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt. Hanser, München 2022. 192 Seiten, 17 €. Ab 14 Jahre]

„Hassen war so einfach“, heißt es einmal. Hass braucht keine Argumente, Hass lässt sich am besten mit Angst schüren. Als Alex für Ferenc eine Rede schreiben soll, baut er darin ein paar Sätze von Perikles ein. Ein schöner Text, lobt ihn Ferenc. Aber völlig nutzlos. Denn wie soll man mit Perikles die ganz normalen Leute kriegen? „Du musst sie dopen, bring sie auf hundertachtzig und dann gib ihnen einen Grund, wütend zu sein.“ „Die Ausländer?“, fragt Alex. „Genau“, antwortet Ferenc. Schuld sind immer die Ausländer. So funktioniert Demagogie.

Alex zeigt sich im Umgang mit seiner pflegebedürftigen Mutter als empathiebegabter, mitfühlender Sohn. Überzeugend wirkt sein Wandel zum xenophoben Hassprediger nicht wirklich. Als bei einer Demonstration einer der Black Boys eine Pistole zieht, greift Alex ein, um eine blutige Eskalation zu verhindern. Für seine Kameraden wird er zum Freiwild. In einer Zeit, in der sich die italienischen Postfaschisten Hoffnungen auf einen Wahlsieg machen, hat Gabriele Clima einen spannenden Roman geschrieben, der demonstriert, wohin Wut in der Politik führt: ins Verderben.