Das könnten die Preisträger sein

Am Ende der zweiten Woche kommt der innere Druckabfall wie ein heilsamer Schock über den Kritiker. Kurzer Check in der Festival-App: 37 Filme stehen da zu Buche, nicht alle wurden bis zum Schluss durchgestanden. Einige verschwimmen auch in einem inspirierenden Nebel – nicht die schlechteste Kinoerfahrung.

Die Favoritenlisten für die Palmen, die am heutigen Samstag verliehen werden, sind aufgesetzt, aber wie es die Programmierung will, hat sich Cannes zwei der schönsten Filme für den Schluss aufgehoben. Tatsächlich passen beide perfekt in die gelassene Stimmung, in die keine großen Filme mehr nachdrängen. Kelly Reichardts lakonische Künstlerinnen-Komödie „Showing Up“ und die Familiengeschichte „Mother and Son“ der französischen Regisseurin Léonor Serraille tun die Konzentration gut, mit der man ihren Geschichten beim Entfalten zusieht (ersterem im Verlauf von wenigen Tagen, letzterem über zwanzig Jahre). Milieuzeichnungen mit einem untrüglichen Blick.

Michelle Williams spielt in ihrem dritten Film mit Reichardt eine Bildhauerin, die sich in ihrem Studio in einer Künstlerkolonie, in der viel getöpfert, gewebt und gefärbt wird, auf eine Soloausstellung vorbereitet. Ihr kranker Bruder, eine verletzte Taube und ihre egoistische Nachbarin sorgen dabei für minimale Komplikationen, doch wie alle Filme Reichardts steuert auch „Showing Up“ auf ein antiklimaktisches Finale zu. Die Regisseurin, die wieder in ihrer Wahlheimat Portland gedreht hat, ist sich ihrer Figuren und Bilder so sicher, dass sie auf erzählerische Stunts verzichten kann. Ihr Film ist erfüllt von der Liebe zur Handarbeit.

Liebe Brüder und Schwestern

Serrailles „Mother and Son“ (im Original „Un petit Frère“) ist nach Arnaud Desplechins „Brother and Sister“ und „Leila’s Brothers“ vom Iraner Saeed Roustaee der dritte Film im Wettbewerb mit Bruder-Thema. Und es wäre keine Überraschung, wenn Serraille und Roustaee am Ende mit einem Preis ausgezeichnet würden. Viele Filme drehen sich in diesem Jahr um Familien (ganz spezielle im Migrationsdrama „Tori et Lokita“ der Dardennes und dem Adoptions-Roadmovie „Broker“ von Hirokazu Kore-eda), aber nur „Mother and Son“ und „Leila’s Brothers“ gelingt es, ohne falsche Sentimentalität und dramaturgisch überzeugend, familiäre Bindekräfte zu beschreiben.

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Bei Serraille fungiert der erwachsene Ernest, der 1989 mit Mutter Rose und seinem älteren Bruder Jean aus der Elfenbeinküste nach Paris emigrierte, als Erzähler. Rose (Annabelle Lengronne) versucht ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, aber das Leistungsprinzip, nach dem sie die Jungen erzieht, und ihr immer wieder ausgebremster Freiheitsdrang treiben die drei über die Jahre auseinander. „Mother and Son“ ist ein nüchterner, einfühlsamer Blick auf die Einwanderergeneration in der langen Ära Jacques Chiracs, die im französischen Kino noch immer einen blinden Fleck darstellt.

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Das fast dreistündige Familiendrama „Leila’s Brothers“ vertritt im mit Autorenfilmern gespickten iranischen Kino dagegen eine eher klassizistische Position. Roustaee beschreibt aus der Perspektive seiner Titelfigur die patriarchale Gesellschaft seines Landes im Moment eines Generationenumbruchs.

Bei einer Jury, die von außen keinen übermäßig cinephilen Eindruck macht, könnte dieser „Bildungsroman“ durchaus auf Sympathien treffen. Rumänien hat mit Cristian Mungius „R.M.N.“ ebenfalls einen starken Vertreter im Rennen, Hollywood mit James Grays „Armageddon Time“ über eine jüdische Familie im New York der späten 1970er. Ein Ausreißer wie der letztjährige Palmen-Gewinner „Titane“ steht nicht zur Auswahl, auch nicht in David Cronenbergs „Crimes of the Future“ . Für einen Hauch von Anarchie könnte allenfalls Ruben Östlunds Kapitalismus-Klamotte „Triangle of Sadness“ sorgen.