Ein Versuch über den Zufall
Die eine fährt mit der Rolltreppe abwärts, die andere auf der Nebentreppe hinauf. Ihre Blicke kreuzen sich, ist das nicht …? Eine Zufallsbegegnung. Vielleicht ist es auch nur ein Ähnlichkeit, eine Verwechslung möglicherweise. Also schnell die Rolltreppe wieder hinunter beziehungsweise wieder hinauf, und schon haben die beiden Frauen sich um ein Haar wieder verpasst. Aber dann stehen sie sich gegenüber, mit ungläubigem Staunen. Waren wir nicht auf der gleichen Schule? Warum warst du gestern nicht beim Klassentreffen? Das Gespräch dauert lange, später am Tag zuhause bei Nana.
Bist du glücklich?, will Moka (Fusako Urabe) von Nana (Aoba Kawai) wissen. Bin ich glücklich? Am Ende ist alles ganz anders, ein Rollenspiel, Vexierspiel, Verwirrspiel.
Wenn zwei sich treffen, gerät die Welt durcheinander. Ich und du, es ist eine doppelte Projektion zwischen Sehnsucht, fingierter Nähe und verpasstem Leben. Der japanische Filmemacher Ryusuke Hamaguchi, der mit seiner oscarprämierten Murakami-Verfilmung „Drive My Car“ in diesem Jahr über die Arthouse-Szene hinaus bekannt wurde, hat drei solcher Begegnungen in „Das Glücksrad“ zusammengespannt. Der Film, uraufgeführt bei der Berlinale 2021, entstand im selben Jahr wie „Drive My Car“. Auch hier lotet Hamaguchi die Echoräume von Begegnungen aus und fördert er die Sinnlichkeit des Sprechens zutage, das Abkapseln und den auf stille Weise aufregenden Moment der Verständigung. Zwei reden miteinander, verirren sich in ihrer Sehnsucht und ihrer Erinnerung, und Hamaguchi lädt das Publikum ein, ihnen dabei zuzuschauen.
Drei Frauen, drei Perspektiven
In der ersten Episode unterhalten sich zwei Fotomodels auf der Heimfahrt nach dem Shooting im Fond eines Wagens. Tsugumi (Hyunri Lee) erzählt von ihrer neuen Liebe, Meiko (Kotone Furukawa) merkt , dass es um ihren Ex geht, verrät es aber nicht und stellt ihn, den erfolgreichen Jung-Architekten, am gleichen Abend zur Rede. Verletzungen brechen auf, die Liebe ist immer unerledigt. Kurz darauf treffen die drei sich zufällig in einem Café.
In der zweiten Episode versucht die Studentin Nao (Katsuki Mori), ihren Französischprofessor Segawa (Kiyohiko Shibukawa) zu verführen, der die akademische Karriere ihres Lovers verhindert hat. Im Büro des Professors liest sie ihm dessen eigenen preisgekrönten erotischen Roman vor, die expliziten Passagen. MeToo schwingt mit, Segawa beharrt darauf, dass die Bürotür offen bleibt. Danach schickt Nao eine kompromittierende Mail aus Versehen nicht an ihn, sondern an die Uni-Verwaltung. Wieder ein Zufall, mit dramatischen Folgen für beider berufliche Existenz. Jahre später trifft sie ihren damaligen Lover im Bus wieder, ein weiterer Zufall, sie sind einander unendlich fern.
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Es ist jedoch erst die dritte Episode, die mit den früheren Schulfreundinnen auf der Rolltreppe, bei der Hamaguchi seine um den Zufall kreisenden Personenkonstellationen in eine andere, tatsächlich erotische und herzergreifende Dimension katapultiert. Denn Nana und Moka erkennen ihre Entfremdung, das Abwesendsein im eigenen Leben. Sie kehren unverwundene Schmerzen hervor, Ungesagtes, Ungeträumtes, Ungelebtes. Die brave Ehefrau und Familienmutter, der lesbische Freigeist, sie kommen sich unerhört nah, nur indem sie miteinander sprechen.
(In zwölf Berliner Kinos, alle OmU)
Ryusuke Hamaguchi geht wie in „Drive My Car“ behutsam vor, er vermeidet jede unnötige Kamerabewegung. Wieder inszeniert er das Leben als Kammerspiel, als Theaterstück (in „Drive My Car“ wurde Tschechow geprobt) mit changierenden Identitäten und fein choreografierter Gestik. So zeigt er nicht mehr und nicht weniger als Menschen in ihnen entsprechenden, ihre Existenz einrahmenden Räumen, in einem fahrenden Wagen, einem weitläufigen modernen Architekturbüro, einem beengten Uni-Büro, einem freundlich eingerichteten Wohnzimmer mit einem bodentiefen Fenster zum üppig grünen Garten.
In Episode eins mag man sich noch darüber ärgern, dass die Freundinnen ihre Identität nur im Reden über einen Mann entwickeln. Habt ihr keine anderen Themen? Beim Bechdel-Test über Geschlechter-Stereotypen würde die Versuchsanordnung krachend durchfallen. In Episode zwei irritiert die unterschwellige Anmutung des Sexismus zwischen Professor und Studentin. Episode drei macht all das jedoch wett, als sensible Studie über sich in einem einzigen Moment tangierende und wieder verlierende Lebenslinien.