Toxische Beziehungen und falsche Wahrheiten

Kritiker und Kritikerinnen können sehr vorhersehbar sein, speziell auf Filmfestivals, wo die schnelle Meinung meist mehr zählt als die Analyse. Auch darum hat sich in den vergangenen Jahren auf den großen Festivals die Praxis des Embargos bis zur Premiere durchgesetzt. Die Versuchung, sich auf der richtigen Seite der Kritik zu positionieren, ist zu verlockend, gerade im Zeitalter der sozialen Medien. Der Drang zur freien Meinungsäußerung bricht sich aber auch schon mal als spontaner Szenenapplaus im Kinosaal Bahn.

So zu erleben am zweiten Venedig-Tag in der Pressevorführung von Todd Fields Wettbewerbsbeitrag „Tár“. Da erhält Cate Blanchett mitten im Film plötzlich Beifall aus dem Dunkeln für eine scharfzüngige Anti-Wokeness-Tirade ihrer Figur Lydia Tár. Die renommierte Dirigentin der Berliner Philharmoniker hat gerade vor den Augen ihrer Studierenden einen Kommilitonen lächerlich gemacht, der sich aus moralischen Gründen weigert, heute noch den „Sexisten“ Bach zu spielen. Für Tár ein Sakrileg, auf das sie mit eisiger Verachtung antwortet.

Studie toxischer Machtverhältnisse

Man tut Todd Field mit dem Applaus jedoch Unrecht (nicht hingegen Blanchett für ihre Szene), denn so eindeutig outet sich der Regisseur nicht als konservativer Kulturkämpfer, im Gegenteil. „Tár“ ist eine fast atemlose Studie von toxischen Machtverhältnissen, in einem Milieu, das sich viel auf seine Kultiviertheit einbildet: die Klassikszene, in der Tár, die mit ihrer Konzertmeisterin Sharon, gespielt von Nina Hoss, zusammenlebt, eine unantastbare Stellung innehat. Diese erlaubt es ihr, ihren Einfluss gegen kleine sexuelle Gefälligkeiten zu tauschen. Wie Field dieses Leben im Elfenbeinturm in langen, unterkühlten Einstellung umzirkelt, hat eine geradezu hypnotisierende Wirkung.

Der Narzissmus und das Machtbewusstsein von Blanchetts Figur, die ihr Leben als eine Summe aus geschäftsmäßigen Beziehungen organisiert, wie Sharon ihrer Frau einmal vorwirft, ist also nicht gerade dazu angetan, ihre Tirade mit einer Aura von Rechtschaffenheit zu umgeben. Eher schon dient diese Charakterisierung als etwas billige Steilvorlage, um Lydia Tár später umso rigoroser zu demontieren. Und das ist besonders bedauerlich, weil es Field weder um die Skandalisierung seines MeToo-Themas noch um die bloße Umkehrung des Täter-Narrativs geht. „Tár“ ist eine Studie von Machtverhältnissen, in der die Kamera sich ihrer Macht über die Figuren jederzeit bewusst ist.

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Für das einstige Wunderkind Field könnte sich Venedig, nach sechzehn Jahren gescheiterter Projekte, als Ort eines gefeierten Comebacks erweisen. Alejandro González Iñárritu ist am Lido dagegen ein alter Bekannter, 2015 ebnete er hier den Oscar-Pfad für „Birdman“. Und die Parallelen zu seiner neuen, selbsterklärt „epischen“ Komödie „Bardo (False Chronicle of a Handful of Truths)“, einer von vier Netflix-Produktionen in Venedig, sind offenkundig: Beide handeln von Männern in einer Lebenskrise, die sich zwischen Realität und Halluzinationen verlieren.

Für Iñárritu stellt der autobiografische Film eine Rückkehr zum mexikanischen Kino dar, was nicht bedeutet, dass „Bardo“ – anders als Alfonso Cuaróns „Roma“ – deswegen bescheidener ausfällt. Der berühmte Journalist Silverio (Daniel Giménez Cacho) lebt hin und her gerissen zwischen seinem Geburtsland und seiner Wahlheimat Amerika: Beiden ist er in Hassliebe verbunden.

Aber so persönlich „Bardo“ auch vorgibt zu sein, Iñárritus Neigung zu großen Gesten und zur Selbstüberschätzung – bis hinein in die Selbstironie – erinnert streckenweise wieder an Todd Fields Titelfigur Tár. Wirklich politisch, wie der Film suggeriert, ist an seiner Auseinandersetzung mit dem (auch mentalen) Kolonialismus des Nachbarn wenig, da kann Iñárritu die Leichenberge noch so hoch stapeln. Es ist vor allem eine potente Revue männlicher Eitelkeiten.