Tanzende Stimme : Meredith Monk im Haus der Kunst

Noch auf der Straße, vor der mächtigen Tür im Haus der Kunst, erklingt ihre sirenenhafte Stimme. Aus ihrem Kehlkopf stößt sie unerhörte Laute, es ist ein Summen, Keuchen, Lachen, Stöhnen und Pfeifen, das zugleich an Urwaldvögel und orientalischen Basar, an orgastische Töne und Opernarien erinnert.

Dazu reichen Hände auf einem LED-Bildschirm den Besuchern kleine Geschenke. Man sieht eine Maultrommel, ein Stück Koralle, ein paar Sicherheitsnadeln. „Offering Shrine“ nennt Meredith Monk diese neue Videoarbeit, die auf ihre große Ausstellung in München einstimmt.

Der Titel ihrer ersten europäischen Retrospektive ist wie ihr Werk vieldeutig. „Calling“ heißt für die 80-jährige US-Künstlerin vieles: rufen, einladen, vor allem aber Berufung. So hat sie ihre Kunst aus Klang, Bild und Bewegung stets verstanden und dabei in die Unmittelbarkeit der menschlichen Stimme als universelle Sprache vertraut.

Vokalakrobatin

Die zierliche New Yorkerin mit dem gewaltigen Organ über drei Oktaven ist eine Vokalakrobatin, die auch heute noch das hohe „C“ beherrscht. Als Komponistin, Performerin, Sängerin, Regisseurin, Dramatikerin, Choreografin, aber auch als experimentelle Künstlerin hat sie sich weltweit einen Namen gemacht. Als „Arbeiterin an den Bruchstellen, wo die Stimme zu tanzen beginnt oder wo Theater zum Kino wird“, bezeichnet sie sich selbst.

Meredith Monk hat Künstler vieler Generationen beeinflusst. Björk, Bruce Nauman, Brian Eno und David Byrne berufen sich auf sie. Für die Kinoregisseuren Jean-Luc Godard und die Coen-Brüdern hat sie Soundtracks komponiert. Vom US-Präsidenten Barack Obama erhielt sie 2015 die National Medal of Arts, die bedeutendsten Kulturauszeichnung der USA.

Blick in die Ausstellung im Haus der Kunst.
Blick in die Ausstellung im Haus der Kunst.

© Meredith Monk/ Foto: Maximilian Geuter

Ausnahmekünstlerin

Dass sie in ihren Werken Kulturen und Genres verschränkt, unvereinbare Welten überbrückt und in ihren Bühnenwerken immer wieder Dramen der Geschichte, der Menschheit und des Planeten erzählt hat, macht sie zur Ausnahmekünstlerin. „Sie ist eine echte Legende“, betont Andrea Lissoni, der künstlerische Leiter im Haus der Kunst auf der Pressekonferenz, „eine Künstlerin am Puls der Zeit“.

Ich bin eine Arbeiterin an den Bruchstellen, wo die Stimme zu tanzen beginnt oder wo Theater zum Kino wird.

Meredith Monk, Künstlerin

Installation von Meredith Monk: „The Politics of Quiet Shrine.
Installation von Meredith Monk: „The Politics of Quiet Shrine.

© Meredith Monk/ Foto: Fritz Beck

Aber wie präsentiert man das multisensorische Werk einer Performance- und Bühnenkünstlerin? Das Team im Haus der Kunst setzte dabei auf das Mailänder Architekturstudio 2050+, das für die drei Kapitel der Retrospektive eine sinnliche Lösung fand. Die Innenarchitekten hängten feine Vorhänge für Filmprojektionen auf, inszenierten dramatisches Bühnenlicht vor abgerundeten Raumteilern und schufen Sitzecken für Hörstationen und Videodokumente, in die man über Kopfhörer stundenlang abtauchen kann. Die Ausstellung wird damit selbst zu einer Art Körper, den Kuratorin Anna Schneider mit „einer Art Brustkorb“ vergleicht, „der sich wie beim Atmen dehnt und weitet“.

Aufregende Bühnenbilder

Im ersten Teil „Time Capsules“ sind drei aufregende Bühnenbilder von Monks frühen Installationen der 1960er- und 1970er-Jahre nachgebildet, darunter auch ihre erste Performance „16 Millimeter Earrings“, mit der sie 1966 ihren Durchbruch feierte. Die rote Perücke, das Netzkleid und die Riesenkette liegen daneben, auf einem Lampenschirm aus Japanpapier leuchtet das Gesicht der Performerin. Auf der Leinwand tanzt eine Schattenfigur vor einer feuerroten Videoprojektion. Noch immer wirkt das Stück radikal, man sieht Monk in surrealistischen, an Man Ray erinnernden Bildern in wechselnden Kostümen aus verschiedenen Blickwinkeln und durch Vergrößerungslinsen verzerrt. Zudem hinterlegte Monk ihren Auftritt mit Tonbandaufnahmen, in dem sie Texte aus Wilhelm Reichs Studie über den Orgasmus zitierte. Der Originalauftritt läuft in einem Videofilm parallel zu dem Showroom.

Inspirationsquellen

Im zweiten Raum, dem „Archive Dream Room“, erhält man Einblick in Monks New Yorker Loft, ihre Inspirationsquellen und ihre Arbeitsweise. Man sieht Kostüme und Schuhe, sogar Schwimmflossen von Bühnenauftritten, ihr Klavier, das über Kopfhörer vierstimmig erklingt, ihre Bücher und sogar einige ihrer Schildkröten-Skulpturen – das gepanzerte Reptil ist Monks Lieblingstier, eine echte Schildkröte namens „New“ lebte fast vierzig Jahre lang mit ihr im Haus.

Die kleinen Kabinette sind eng bedeckt mit Partituren, Zeichnungen und privaten Fotos vom Dalai Lama bis zu Musikerfreunden wie John Cage. Auf einem Video erklärt sie ihre Arbeitsweise. Auf Tablets kann man ein gutes Dutzend Videos von ihren Live-Auftritten nacherleben, darunter unveröffentlichte Songs, die sie für ihre Neffen komponierte und ein Duett mit Bobby McFerrin, das nie erschien. Auch ihr Konzert im Haus der Kunst, das sie 2012 im Rahmen der Ausstellung über das Münchner Plattenlabel ECM Records gab, kann man abrufen.

Multimedia-Arbeiten

Für den letzten Teil der Ausstellung sollte man sich Zeit lassen. Dort lässt Meredith Monk ihre neueren Multimedia-Arbeiten ab 1981 in abgetrennten Kabinetten noch einmal aufleben. Die Künstlerin nennt sie „Schreine“, in die man sich meditativ versenken sollte, ihrer Musik lauschen und dazu ihre Videobilder aufnehmen. Den Anfang macht ihr wegweisendes Album „Dolmen“, das sie nach einem Besuch der prähistorischen Hünengräber in der Bretagne 1981 für drei Frauen- und drei Männerstimmen, Violoncello und Percussion komponiert hat. Die Musikerin Björk hörte es mit 16 und fühlte sich „wie verwandelt“. Björk interpretierte später Monks Song „Gotham Lullaby“ neu.

Kreislauf des Lebens und der Natur

Am Ende bittet die Künstlerin in „Rotation Shrine“ um den Fortbestand der Erde. Das Stück entstand während der Pandemie, die bekennende Buddhistin Monk versteht es zugleich als Gebet wie als Denkanstoß für den Kreislauf des Lebens und der Natur.

Die Verbindung von Körper und Geist, auch von Leben und Tod waren ihr von Anfang an wichtig. Die New Yorkerin wuchs in einer musikalischen, jüdisch geprägten Familie auf. Ihr Urgroßvater war Kantor an einer Synagoge in Moskau, der Großvater Opernsänger, die Großmutter Konzertpianistin. Die Mutter sang Jazz und Pop. Als sie in den Sechzigern Gesang und Tanz studierte, bestimmte die Rockmusik die Szene. Mit ihren wummernden Bässen und Drumms zielten die Songs direkt in die Magengrube. 1968 in San Francisco erlebte Meredith Monk noch Janis Joplin auf der Bühne und war begeistert von ihrer Energie.

Auch Krisen hat Meredith Monk durchlebt und in ihrer Kunst verarbeitet. Einige Monate nach dem plötzlichen Tod ihrer Partnerin, der niederländischen Choreografin Mike van Hoek, im November 2002, wurde sie um eine Komposition für eine in London ansässige Organisation gebeten, die Künstler mit Palliativpatienten in Verbindung bringt. Monk kreierte daraufhin „impermanence portraits“, abstrakte, poetische Porträts von sterbenden Menschen, die im Treppenhaus ausgestellt sind.