Ein großer Denker mit Alarmanlage

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche: Peter von Becker über literarische Fundstücke.

Alles hat Struktur, wo immer menschliche Gruppen leben. Alles, also Sprachen, Verwandtschaftssysteme, soziale Organisation, materielle Praxis, der Handel, alle magischen und mythischen Vorstellungen. Kurz, alles, womit, wodurch, worin Menschen leben.

Claude Lévi-Strauss (1908 – 2009), der weltweit wohl bekannteste Ethnologe, kam als junger, sozialistischer Forscher aus der französischen Philosophie und Soziologie, als er von 1935 bis 1939 auf Expeditionsreisen im Amazonasgebiet erstmals „primitive“ Gesellschaften beobachtete.

Zwanzig Jahre nach Beginn seiner Forschung im Regenwald von Brasilien entstand das den Kolonialismus anklagende Hauptwerk „Traurige Tropen“, das zugleich die Grundlagen seiner strukturalen Anthropologie illustriert.

Dazwischen lag eine Ära der biographischen Brüche, ausgelöst durch die Katastrophe des Nationalsozialismus und der Shoah. Als Jude war Lévi-Strauss nach New York emigriert. Der Flüchtling lernte bei einer dort lebenden Tante Englisch, er las in Bibliotheken die Texte der amerikanischen Anthropologie und fing bald sogar an, auf Englisch zu publizieren.

Ihm widerstrebt das wertfreie Datensammeln

Einige der fast vergessenen Texte, die Lévi-Strauss im Exil von 1941 bis 1947 schrieb, hat der Genfer Philologe Vincent Debaene nun versammelt, und der Band könnte spannender kaum sein. (Strukturale Anthropologie Zero. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin, 2021. 392 S., 34 €.).

Hier finden sich Überlegungen zu den fluiden Übergängen zwischen Krieg und Handel in Amazonien, Thesen zu Macht, Aggression, Hierarchie, Reziprozität und zur „Außenpolitik“, etwa Heirats- und Konfliktpolitik, „primitiver“ Gesellschaften. Lesend betritt man die Baustelle, auf der das Gedankengebäude des Strukturalismus entsteht, und erhält eine großartige Einführung in das Werk.

Lévi-Strauss´ Nachdenken über, so der Herausgeber, „soziale Formationen ohne Staatlichkeit“ und ohne „ursprüngliche Akkumulation“, also ohne Anhäufung von Werten, war wegweisend für das Fach der Ethnologie, das sich von seiner Herkunft aus exotistischen Zuschreibungen, leerer Sammelwut und dünkelhaftem Evolutionismus emanzipierte. Symbolische Ordnungen sind nach Lévi-Strauss universell. Sie sind überall auf der Welt das Ergebnis historischer Prozesse, sie sind elastisch, halten Differenz und Identität im Wandel, werden vom Unbewussten mitgeschrieben.

Doch sind sie darum noch nicht alle gleich zu bewerten. Im kritisch verehrenden Nachruf auf Bronislaw Malinowski leuchtet deutlich die politische und wissenschaftliche Alarmanlage von Lévi-Strauss auf. Bei allem Respekt widerstrebt ihm das wertfreie Datensammeln der Feldforschung, der Funktionalismus, der, „in gefährlicher Weise die Legitimation jedweden Regimes ermöglicht.“ Erst recht erfrischend wirken solche Einsichten in der aktuellen Phase eines neuen Kulturrelativismus, der Demokratie und Menschenrechte nicht zu schätzen weiß.