Neuköllner Oper: Die Welt im Jahr 2222

Künstlerisches Arbeiten im Kollektiv liegt zweifellos Trend. In der Berliner Musiklandschaft gibt es kaum ein Ensemble, das synonymer für diese Arbeitsweise stehen könnte als das Stegreif-Orchester. Das „improvisierende Symphonieorchester“ besteht aus hervorragenden Musiker*innen, die sich selbst organisieren und für die Verschmelzung heterogener musikalischer Welten einstehen.

Jetzt ist das Kammerorchester an der Neuköllner Oper zu Gast. Die Uraufführung des Abends „Neue Lieder von der Erde“ illustriert dabei neben gewinnenden Momenten vor allem auch die Risiken gemeinschaftlicher, künstlerischer Schaffensprozesse. Das ambitionierte Bühnenstück unter der Regie von Sommer Ulrickson scheut nicht die Parallele zu Gustav Mahlers groß angelegter Liedsymphonie „Das Lied von der Erde“. Ausgehend von Hans Bethges Übertragungen chinesischer Lyrik, ganz dem Zeitgeist verpflichteten Chinoiserien, erschafft Mahler eine in Naturmetaphern aufgehende Welt von Abschied und Entfremdung.

Die Fülle der angespielten Themen ist erdrückend

In „Neue Lieder von der Erde“ wird diese Perspektive des Individuums auf zeitgenössische Themen wie Klimakrise, Globalisierung, Nachhaltigkeit, Transformation, Identitätsfindung, Körperlichkeit, Liebe, Heimat, Freiheit, Flucht, und andere übertragen. Die Handlung spielt in einer dystopischen Welt im Jahre 2222, die durch die verheerenden Wirkungen des Klimawandels bestimmt ist.

Zwei Moderator*innen-Figuren führen durch ein fiktives Museum und werden hier und da durch die Erscheinung eines Fabelwesens verwirrt. Aus Kompositionen und Improvisation der Stegreif.Musiker*innen, kombiniert mit Texten von Bethge sowie syrischen und deutschen Autor*innen, entsteht ein wild gesetztes Mosaik szenischer wie musikalischer Versatzstücke. Das hohe Niveau des Orchesters entschädigt für den recht losen Mahlerbezug, der über musikalische Zitate, Arrangements oder Textfragmente nicht hinauskommt.

Schwerer wiegt, dass sich der ungleich losere dramaturgische rote Faden in szenischen Effekten sowie im Themenpluralismus verliert. Vielleicht ist der selbst gesetzte Anspruch des Projektes, das in kollektiver Zusammenarbeit von Autor*innen und Musiker*innen nebst wissenschaftlicher Begleitung entstanden ist, zu ehrgeizig gewählt. Die konzeptuelle Grundidee der bewussten Brüche und des inklusiven Ansatzes ist bewundernswert. Das Bühnenstück allerdings, das noch bis zum 12. November 2022 zu erleben ist, wirkt unausgereift.

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