Nachruf auf Gerhard Wolf: Lebensmensch und Dichterfreund

Banalem nicht ausweichen, Bedeutendes nicht suchen oder inszenieren: Das waren Christa Wolfs Prämissen für die Literarisierung des 27. September von 1960 bis 2000.

Die Schriftstellerin, die zu bekanntesten der DDR werden sollte, war 1960 einem Aufruf der Moskauer Zeitung „Iswestija“ gefolgt, der an ihre Kolleginnen und Kollegen in aller Welt erging: Sie mögen einen Tag dieses Jahres, nämlich den 27. September, möglichst genau beschreiben.

Diesem Auftrag widmete sich Christa Wolf so hingebungsvoll, dass daraus mit „Ein Tag im Jahr“ ein 665 Seiten starkes September-Buch wurde, das 2003 im Aufbau-Verlag erschien. Am Stichtag 27. September 1960 war Christa Wolf, geborene Ihlenfeld, 31 Jahre alt und seit neun Jahren mit Gerhard Wolf verheiratet, mit dem sie zwei Töchter hatte, Annette und Katrin, genannt Tinka. Beide Eheleute arbeiteten als Lektoren beim Mitteldeutschen Verlag in Halle. Die Wolfs führten ein Künstlerleben in einer materiellen Sicherheit, wie sie im Kapitalismus nicht selbstverständlich wäre.

Mehrfach erwähnte Christa Wolf, die 1963 mit ihrem ersten großen Roman „Der geteilte Himmel“ bekannt wurde, dankbar ihr eheliches und familiäres Glück. Und so ist Gerhard Wolf in diesem Buch allgegenwärtiger als im sonstigen Werk seiner Frau – als sprichwörtlich verlässlicher Mann an ihrer Seite, als ihr empathischer Gesprächspartner in allen Lebenslagen.

Selbstredend unterstützte er sie auch in den Abgründen der Schreibhemmung: „Ich sage Gerd unterwegs, dass ich nun einen Anfang habe. Er ist der Meinung, dass ich nur aus der Negation, der Verkrampfung heraus schreiben könne und mir deshalb unbewusst diesen Zustand herbeiführte.“

Spiel mit der Goethezeit

Am 1. Dezember 2011 ist Christa Wolf in Berlin-Pankow gestorben, was das jahrzehntelange „Gespräch im Hause Wolf“ abrupt beendete. Diese auf die Goethezeit und die Romantik anspielenden Unterhaltungen galten Künstlerfreunden wie Brigitte Reimann, Volker Braun oder Stephan Hermlin. Diese liebevollen Erinnerungen und Hommagen sind in dem Buch „Herzenssache. Memorial – unvergessliche Begegnungen“ nachzulesen, das Gerhard Wolf 2020 veröffentlichte.

Sie zeigen das ausgeprägte Talent ihres Verfassers zur Empathie, ganz gleich, ob er über Carola Stern oder den Designer Otl Aicher spricht oder über den Lautpoeten und Künstlerfreund Calfriedrich Claus. In seinem 1991 gegründeten Verlag Janus Press publizierte Wolf „Zwischen dem Einst und dem Einst“ von Claus, darunter „Aurora“ betitelte sogenannte Sprachblätter, die auch im Reichstagsgebäude zu sehen sind.

Die Entwicklung zum Homme de Lettres war Gerhard Wolf nicht unbedingt in die Wiege gelegt: Am 16. Oktober 1928 im thüringischen Bad Frankenhausen als Sohn eines Buchhalters geboren, verlor er mit zehn seine Mutter. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs geriet er als Flakhelfer in amerikanische Gefangenschaft. Er trat 1946 in die SED ein, die ihn dreißig Jahre später wieder ausschloss, als er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierte.

1947 legte Wolf das Abitur ab und wirkte als „Neulehrer“, bevor er ab 1949 Germanistik in Jena und an der Berliner Humboldt-Universität studierte. Dazwischen war er Rundfunkredakteur in Berlin und Leipzig und schnupperte Filmluft bei der DEFA, ehe er seine überaus fruchtbare Herausgebertätigkeit begann. Wolf war ein Freund der Poetinnen und Poeten, deren Stimmen er sammelte, etwa in der Reihe „Märkischer Dichtergarten“, die er mit Günter de Bruyn herausgab. Seine erste eigene Veröffentlichung galt 1959 Louis Fürnberg: „Der Menschheit Träumer und Soldat“.

Minnedienst für die Literatur

1988 veröffentlichte Gerhard Wolf mit Bert Papenfuß den Band „Dreizehntanz“ als spektakulären Auftakt von „Aufbau – außer der Reihe“. Nach der Wende versuchte er, diesen kollektiven Geist der DDR-Literatur zu bewahren, wie er sich vor allem in Prenzlauer Berg manifestiert hatte. In einem Gespräch mit Peter Böthig erinnerte sich Wolf daran, dass er und Christoph Links als erste ihre Verlage LinksDruck und Gerhard Wolf Janus Press ins Handelsregister der DDR eintragen ließen, als das erstmals für Privatleute möglich war: „Ich hatte natürlich den Wunsch, die Bücher zu machen, die man vorher nicht hatte machen können.“

Für die optische Gestaltung seiner der experimentellen Literatur verpflichteten Verlagstitel wie Franz Mons „das wort auf der zunge“ hatte Wolf Otl Aicher gewinnen können, Weggefährte der Geschwister Scholl und Schöpfer des freundlichen Pastell-Looks der Olympiade von 1972.

Das Ehepaar Wolf hatte Otl Aicher kennengelernt, als Christa 1987 für ihren Roman „Störfall“ in München den Geschwister-Scholl-Preis erhielt. Nun hat sich Gerhard Wolfs Lebenskreis, der stets ein Minnedienst für die Literatur war, geschlossen. Am Dienstag ist er im Alter von 94 Jahren gestorben.

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