Die Ukraine vergab beim ESC keine Punkte an Polen und Litauen
Sie wird jetzt international gefeiert, aber der ukrainischen Siegerband Kalush Orchestra ist nach ihrem Triumph beim Eurovision Song Contest mit der historisch höchsten Publikumswertung nicht danach, selber Partys zu veranstalten.
„Wir werden vielleicht nach dem Krieg eine große Feier haben, denn der Sieg ist großartig, den ESC zu gewinnen ist fantastisch, aber es passiert gerade so viel“, sagte der Rapper Oleh Psjuk im Rahmen einer Video-Pressekonferenz. „Menschen, die man kennt, werden in diesem Krieg getötet oder kämpfen darin oder verlieren ihre Jobs in der Ukraine.“ Am Sonntag hatte die Band ein neues Video ihres Hip-Hop-Songs “Stefania” veröffentlicht, mit Aufnahmen von aktuellen Kriegsschauplätzen wie Irpin oder Butscha im Bildhintergrund.
Ein Land im Krieg als ESC-Gewinner, das gab es so noch nie. Ob und wie der nächste Contest in der Ukraine ausgetragen werden kann, bleibt zwangsläufig erst einmal offen – auch wenn sich Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko dafür ausgesprochen hat, den Wettbewerb 2023 nach Möglichkeit in der ukrainischen Hauptstadt auszutragen.
Während die ukrainische Post jetzt eine ESC-Briefmarke plant, fällt ein weiterer Schatten auf die weithin geteilte Freude nach dem in Turin ausgetragenen Show-Finale am vergangenen Samstag. Nationalen Medienberichten zufolge soll die ukrainische ESC-Jury an die Kandidaten aus Polen (Krystian Ochman, Platz 12 in der Gesamtwertung) und Litauen (Monika Liu, Platz 14) jeweils null Punkte vergeben haben. Die beiden Länder unterstützen die Ukraine besonders engagiert bei der Verteidigung gegen Russlands Angriffskrieg.
Der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkachenko nannte die Voten auf Facebook eine Schande. „Eine solche Bewertung reflektiert in keiner Weise unsere wahre Einstellung zu Euch, unseren engsten Freunden in Europa. Ja, die Briten waren großartig und wurden zweite, aber null Punkte sind beschämend für die Polen und die Litauer.“ Deren Unterstützung für die Ukraine sei nicht hoch genug einzuschätzen, nicht hoch könne deshalb ihre Dankbarkeit sein.
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„Von den Ukrainern habt Ihr 12 Punkte!“, twitterte Tkachenko außerdem. „Unser Sieg ist ein gemeinsamer, beim Eurovision Song Contest genauso, wie es der gegen unseren Feind sein wird.“
In der Gesamtwertung aller Jurys war „Stefania“ von Kalush Orchestra auf Platz vier gelandet, nach Großbritannien, Schweden und Spanien. Die Jurys aus Polen und Litauen hatten die ukrainische Band dabei mit der höchsten möglichen Wertung von zwölf Punkten bedacht.
Dagegen das Null-Votum, ein Skandal? Die Sängerin Iryna Fedyshyn, Mitglied der ukrainischen Jury, postete, die Null-Punkte-Nachricht sei nicht wahr. Niemand könne im Ernst glauben, dass die Jury etwa dem polnischen Sänger Krystian Ochman keinen einzigen Punkt gegeben habe. Auf Instagram veröffentlichte sie ihren eigenen Stimmzettel, mit 10 Punkten für Ochman.
Ob die Sache sich aufklärt? Bei der Erfassung der Jury-Wertungen soll es laut der European Broadcasting Union ohnehin schon während des Halbfinales Unregelmäßigkeiten gegeben haben. Jetzt wurden sechs Jury-Voten wegen Manipulationsverdacht ausgeschlossen und aggregierte Mittelwerte aus ähnlich stimmenden Jurys als Ersatzergebnisse erstellt. Bei den ausgeschlossenen Jurys handelt es sich um diejenigen aus Aserbaidschan, Georgien, Montenegro, Rumänien, San Marino – und Polen.