Musik und Malerei als Schwesternkünste: Countertenor mit Peitsche
Sind Musik und Malerei Schwesternkünste? Musik arbeitet mit Klangfarben, Malerei mit Farbtönen. Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied: Musik zwingt zum Verweilen. Wieviel Zeit wir ihr widmen, wird durch die Partitur festgelegt, nicht durch uns selbst. Die Malerei dagegen übt diesen Zwang nicht aus. In einer Ausstellung, in einer Galerie bestimme ich selbst, wie lange ich vor einem Kunstwerk verweile.
Raum und Zeit vergessen
Da fällt mir eine Geschichte ein, die mir der Dirigent Yoel Gamzou erzählt hat, vom Besuch einer Ausstellung des Präraffeliten Dante Gabriel Rossetti in London. „Ich hatte kaum den ersten Raum betreten, als mir ein Wärter auf die Schulter klopfte und sagte: Sorry, wir schließen jetzt.“ Verwundert schaute Gamzou auf die Uhr – und stellte fest, dass tatsächlich mehrere Stunden seit seinem Eintreten vergangen waren. Schon das erste Gemälde hatte ihn derart in den Bann gezogen, dass er komplett Raum und Zeit vergaß.
Nach diesem Erlebnis stand für ihn fest, dass er über Rossettis Gemälde eine Tondichtung komponieren musste. Ähnlich, nur mit umgekehrten Vorzeichen geht es der Malerin Jac Carley, deren Werke gerade in der TAA Galerie in der Fasanenstraße zu sehen sind. Es ist die Musik, die sie zur Malerei inspiriert.

© JJO/published by SKP
Bei ihren aktuellen Arbeiten hat sie zunächst einen Bogen sehr festes Papier gepeitscht, mit einem in schwarze Farbe getauchten Bündel Lavendel, manchmal auch mit einem Tau. Die Oberfläche wird dabei in Mitleidenschaft gezogen. Mit Leidenschaft.
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Ausgelöst wird dieser gewaltsame Akt durch eine überraschend sanfte Musik, nämlich die Arie des Anastasio aus Antonio Vivaldis Oper „Il Giustino“, gesungen vom polnischen Countertenor Jakub Orlinski.
Es dauert lange, bis die erste Farbschicht getrocknet ist. Wochen, manchmal Monate. Der Schlag muss vernarben. Während das geschieht, macht Jac Carley immer wieder Visite, wie eine Ärztin bei ihrem Patienten. Wenn dann die Zeit für die Kolorierung gekommen ist, geht es wieder um Musik.
Sie stammt vom Elektronik-Pionier Charles Cohen, von der Mezzosopranistin Cecilia Bartoli, von Sting, von Dmitri Schostakowitsch. Avantgarde, Klassik, Pop. Viele Stile, Hauptsache keine Stille.
Sind Malerei und Musik Schwesternkünste? Vielleicht können wir uns darauf einigen: mindestens sind sie Brüder im Geiste!