Die Aufklärung muss gegen ihre Verfechter verteidigt werden
Floris Biskamp ist Soziologe, Politikwissenschaftler und Koordinator des Promotionskollegs rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen
Wenn der „Spiegel“, „Bild“ und Boris Palmer innerhalb weniger Tage vor dem Untergang des Abendlandes warnen, muss es wirklich ernst sein – oder man hat mal wieder ein Schreckgespenst gefunden, das man durch die Kommentarspalten jagen kann. Aktuell heißt das Schreckgespenst Critical Race Theory.
Diese zählt laut „Spiegel“ zu „den einflussreichsten Denkschulen der letzten Jahrzehnte“ und sei nicht weniger als ein „Angriff auf die Werte des Westens“.
Mit dieser alarmistischen Warnung vor den Gefahren, die von dieser Forschungsrichtung angeblich ausgehen, greift man hierzulande eine US-amerikanische Debatte auf. Dort wird die Critical Race Theory von der Rechten im Tonfall der McCarthy-Ära als „Angriff auf Amerika“ dargestellt, was in einigen Bundesstaaten gar zu ihrem Verbot an staatlichen Schulen führte.
Um was geht es? Critical Race Theory ist keine einheitliche Theorie, sondern ein Sammelbegriff für ein ganzes Bündel von Theorie-, Forschungs- und Politikansätzen. Deren Gemeinsamkeiten lassen sich am besten in Abgrenzung zu liberal antirassistischen Ansätzen verstehen.
Liberaler Antirassismus sieht das Problem des Rassismus vor allem in diskriminierenden Rechtsnormen, die eine Ungleichbehandlung von Menschen legitimieren. Die Lösung bestünde dann darin, diese diskriminierenden Normen eine nach der anderen abzuschaffen, bis das Recht „farbenblind“ ist. Der ethische Anspruch an die Einzelnen wäre es, einerseits selbst „farbenblind“ zu handeln, andererseits diskriminierenden Rechtsnormen zu widersprechen.
Critical Race Theory speist sich aus der historischen Erfahrung, dass die unbestreitbaren Erfolge dieses liberalen Antirassismus die reale Situation der Schwarzen in den USA nur sehr bedingt verbessern konnten – zu messen etwa in Armutsrate, Gefängnisbevölkerung etc.
Dies führte zu der (nicht ganz neuen) Vermutung, dass Rassismus nicht bloß in explizit diskriminierenden Rechtsnormen und Handlungen zu finden ist. Vielmehr sei er auf einer grundlegenderen Ebene in der politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Ordnung verankert, sodass er soziale Institutionen sowie die Weltsicht und das Handeln der Einzelnen auch da präge, wo diese gar nicht explizit darüber nachdenken.
Tieferliegende rassistische Strukturen müssen politisch verändert werden
Die daraus folgende Erkenntnis: „farbenblind“ zu sein, reicht nicht aus. Es genügt auch nicht, wenn Rechtsnormen aufhören, offen zu diskriminieren, vielmehr müssen auch tieferliegende rassistische Strukturen politisch verändert werden. Auch für die Einzelnen reiche es nicht aus, sich vorzumachen, sie gingen „farbenblind“ durch die Welt; vielmehr müssten sie anerkennen, dass „Farbe“ relevant ist, und sich kritisch dazu verhalten.
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Diese Schlüsse sind zunächst nachvollziehbar – das erkennt auch René Pfister in seinem jüngsten „Spiegel“-Artikel an. Aber wie wird daraus dann ein „Angriff auf die Werte des Westens“? Vor allem dadurch, dass Kritik zum Frontalangriff umgedeutet wird.
Pfister zitiert die Einführung in Critical Race Theory von Richard Delgado und Jean Stafancic, die ihr Programm als „Infragestellen der Fundamente der liberalen Ordnung“ erklären. Unmittelbar nachdem Pfister diese Worte zitiert, deutet er das „Infragestellen“ als „Angriff auf zentrale Werte des Westens“.
Das ist gleich dreifach irreführend. Erstens ist „infragestellen“ schon eine einseitige Übersetzung des englischen „to question“, das auch „befragen“ oder „prüfen“ heißen kann – und man kann etwas auf seine rassistischen Gehalte hin befragen, ohne es grundsätzlich infrage stellen zu müssen.
Selbst wenn man der schärferen Übersetzung folgt, ist zweitens zu betonen, dass ein „Infragestellen“ noch kein „Angriff“ ist, sondern erst einmal rationale Kritik. Drittens sollten sich die „Werte des Westens“, deren Verteidigung Pfister so am Herzen zu liegen scheint, gerade durch ihre Offenheit für Infragestellung und Kritik auszeichnen.
Die Aufklärung nicht zu einem Dogma erklären
Jedenfalls müsste das so sein, wenn die „westliche Tradition“ wirklich etwas mit „Aufklärung“ zu tun haben sollte, was wir doch alle hoffen wollen. Kaum eine Handlung ist radikaler aufklärerisch als das Verfolgen der Frage, ob in den Institutionen, die sich auf die Aufklärung berufen, Formen der Herrschaft und des Ausschlusses angelegt sind, die dem eigenen Anspruch zuwiderlaufen.
Mit solchen Befragungen steht die Critical Race Theory wahrlich nicht allein dar. Mitte der 1940er fragten Theodor Adorno und Max Horkheimer, ob in der Aufklärung selbst nicht der „Rückfall“ der Shoah angelegt war. In den 1980er Jahren stellte Carol Pateman – wie viele andere Feminist:innen auch – die Frage, ob die patriarchalische Unterwerfung der Frauen im liberalen Gleichheitsdenken nicht stillschweigend vorausgesetzt sei und weitergetragen werde.
„Der Westen“ und „die Aufklärung“ haben diese Infragestellungen bislang gut überstanden – vielleicht sogar zu gut, wenn man bedenkt, wie wenig diese Kritiken sie verändert haben. Was der Aufklärung dagegen überhaupt nicht gut bekommt und ihrem Geist widerspricht, ist es, sie kulturkämpferisch zu einem Dogma oder Bekenntnis zu erheben, dessen kritische Befragung einem „Angriff“ auf das Hochheiligste „des Westens“ gleichkommt.
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Es geht nicht darum, die Critical Race Theory als sakrosankt und über jede Kritik erhaben darzustellen. Sie ist ein vielfältiges Bündel von Theorien und Praktiken und einige davon sind zweifelsohne problematisch.
Auch unter diesem Oberbegriff findet man Dogmatismus, Moralismus, Reduktionismus, Monismus, Einseitigkeit und, wie in jeder Wissenschaft, schlichtweg schlechte Forschungsarbeiten. Darüber ist zu sprechen – gerade im Interesse dessen, was an der Critical Race Theory richtig ist.
Bis niemand mehr weiß, was wahr und falsch ist
Hinzu kommen Probleme der Übertragung auf die Verhältnisse in Deutschland. Rassismus funktioniert hier historisch und gegenwärtig anders als in den USA, weshalb Critical Race Theory bei ihrer Anwendung auf den deutschen Fall angepasst werden muss.
Man denke nur an die fortwirkende Geschichte des antislawischen und antipolnischen Rassismus, die bedacht werden sollte, wenn man Begriffe wie „People of Color“ und „Whiteness“ überträgt.
Die Ideen aber insgesamt als „Angriff auf die Werte des Westens“ abzukanzeln ist unredlich und verhindert, dass man wichtige gesellschaftskritische Lektionen lernt – die man freilich nur lernen könnte, wenn man sich ernsthaft auf den Gegenstand einließe, statt nur nach Bestätigungen für eigene Vorurteile zu suchen.
Gerade weil die Angriffe auf die Critical Race Theory ihren Gegenstand weitgehend verfehlen, könnte man das alles für irrelevant halten. Dies gilt umso mehr, da sie an deutschen Universitäten ohnehin marginal ist, was die Debatte folgenlos erscheinen lässt.
Gegen ein solches Abtun spricht zweierlei: Zum einen haben die Debatten um Critical Race Theory und die daran anknüpfenden Initiativen aus der Republikanischen Partei in den USA ein Ausmaß angenommen, das es erforderlich macht, sich mit den Forschenden und Lehrenden zu solidarisieren, deren Wissenschaftsfreiheit bedroht ist.
Wenn die aufgeregte Legendenbildung auch im hiesigen Diskurs weitergetragen wird, ist das das Gegenteil davon. Zum anderen sind die diskursiven Muster bekannt aus den Debatten um Gender Studies: Missverständnisse und Unachtsamkeiten werden mit bewussten Lügen und Unwahrheiten sowie schlecht verstandener Kritik „des Postmodernismus“ verquickt und mit durchaus treffenden Verweisen auf reale Probleme aus diesem Feld garniert.
Der so angerührte Cocktail aus Lüge und Halbwahrheit wird als „Kritik der Gender Studies“ oder „Kritik der Critical Race Theory“ vermarktet. Das vielfach nachgeahmte Rezept, wird so lange angepriesen, bis niemand mehr weiß, was wahr und falsch ist.
Damit werden Forschende, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse kritisch untersuchen, delegitimiert und die entsprechenden Herrschaftsverhältnisse unsichtbar gemacht. Dass sich solche diskursiven Muster etablieren, kann nicht gut sein – auch nicht für „den Westen“ und „die Aufklärung“.