Die Berlinale ist ein Sommermärchen für Berlin
Diese Berlinale wird uns lange in Erinnerung bleiben. Das Leben drängt aus den Wohnungen zurück in die Öffentlichkeit, in den Straßencafés und Parks ist die aufgeregte Vorfreude geradezu mit Händen greifbar. Man beginnt sich wieder an zwischenmenschliche Rituale aus grauer Vorzeit zu erinnern. Eigentlich also ein ganz normaler Sommer in Berlin, nur dass sich dieser Sommer nach 15 Monaten sozialer und kultureller Distanz eben doch befreiter anfühlt.
Die Kultur kehrt zurück und mit ihr ein Anflug von Hoffnung. Im vergangenen Sommer war das noch anders, da schwang bei aller Erleichterung über die Lockerungen schon die Vorahnung einer zweiten Welle mit. Auch die Kinos spürten damals die Skepsis des Publikums. Es wird noch eine Weile dauern, bis sich dieses Gefühl von Sicherheit wiedereinstellt.
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Die Krise der Kinos, die die Pandemie noch verstärkt hat, wird nicht einfach verschwinden. Die Pandemie hat gezeigt, wie verletzlich die Kultur ohne Öffentlichkeit, ohne sozialen Resonanzraum ist; und wie wenig Unterstützung sie letztlich durch die Politik erfährt. (Hier können wir uns im Vergleich mit vielen anderen Ländern allerdings noch glücklich schätzen)
Könnte es also einen besseren Zeitpunkt für die 71. Berlinale geben, deren Publikumsevent an diesem Mittwoch startet und in den nächsten zwölf Tagen zudem in ein meteorologisches Hoch fällt? Gerade auf dem Festival ist das Kino ja ein Ort, an den man sich zurückzieht – zur Kontemplation, für ein sinnliches Erlebnis oder schlicht zum Schutz vor dem matschigen Februar-Wetter. Schon in der Ära Dieter Kosslicks lud es die Stadt zum Mitfeiern ein, zog in die Kieze. In den nächsten Tagen wird die Berlinale nun dahin gehen, wo sich die Menschen im Sommer halt so aufhalten: in die Parks, an die öffentlichen Plätze.
Das Festival wird im Freien stattfinden; das gebieten die Gesundheitsvorschriften, aber es ist auch die denkbar feierlichste Bühne für das Kino. Wer einmal eine abendliche Vorführung auf der Piazza Grande beim Filmfestival von Locarno erlebt hat (das Berlinale-Direktor Carlo Chatrian sechs Jahre geleitet hat), kennt dieses Hochgefühl.
Die Berlinale hat dem Virus ein Schnippchen geschlagen
Man muss Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek heute fast dankbar sein, dass sie an der im Frühjahr umstrittenen Teilung der Berlinale in Branchenevent im März und Publikumsfestival im Sommer festgehalten haben. Dass sie die Option eines Online-Festivals von Beginn an vehement ausschlossen. Mit ihrem Durchhaltevermögen konnten sie der Pandemie gewissermaßen ein Schnippchen schlagen; dass es am Ende „nur“ für eine Freiluft-Berlinale reicht, erweist sich mit Blick auf die Wetterprognosen sogar als Glücksfall.
Das Kino braucht das Eventhafte gerade mehr denn je. Es wäre fast dramatisch gewesen, müsste sich die Berlinale dieser Tage wieder in die dunklen Kinosäle zurückziehen. So blüht der Stadt bis zum 20. Juni ein kleines Sommermärchen.
Die Berliner Kinos, denen die Einnahmen aus den Vorführungen zugute kommen, können diesen Schub gut gebrauchen. Am 1. Juli steht der „Neustart Kino“ an, mit dem Blockbuster „Godzilla vs. Kong“, den Oscar-Gewinnern „Nomadland“ und „Judas and the Black Messiah“ sowie den deutschen Berlinale-Beiträgen „Fabian“ von Dominik Graf und Daniel Brühls Regiedebüt „Nebenan“. Anders als im Sommer 2020 wird es dieses Jahr keinen Kaltstart erleben, dafür sorgt die Berlinale. Für viele Vorführungen sind die Karten bereits ausverkauft, auch für „Der Mauretanier“ (in den Hauptrollen Jodie Foster, Tahar Rahim und Benedict Cumberbatch), der am Mittwoch im Festivalkino auf der Museumsinsel (siehe Artikel unten) und in fünf weiteren Spielstätten die Berlinale eröffnet.
Der Wettbewerb überzeugt trotz Pandemie durch Vielfalt
Da macht es auch keinen großen Unterschied, dass sich das Festival durch die Preisvergabe im März eines Spannungsmoments beraubt hat. Das Berliner Publikum hat sich für Auszeichnungen seit jeher nur peripher interessiert, es folgte schon immer der eigenen Neugier. Doch auch so dürfte Radu Judes Goldener-Bär-Gewinner „Bad Luck Banging or Loony Porn“ über das Sextape einer Lehrerin, das versehentlich im Internet landet, zu einem Festivalliebling avancieren.
Das rumänische Kino genießt in Berlin ohnehin hohes Ansehen. Jude, der schon 2015 einen Silbernen Bären gewann, gilt in seinem Heimatland allerdings eher als Eigenbrötler, der die Formen des populären Kinos nicht scheut, in seinen gesellschaftlichen Analysen aber auch die Mittel der Farce beherrscht.
Der Wettbewerb überzeugt trotz einer pandemiebedingt stotternden internationalen Filmproduktion mit einer verblüffenden Vielfalt, die man zuletzt auch unter normalen Bedingungen von der Berlinale nicht unbedingt gewohnt war. Die Jury – in diesem Jahr zusammengesetzt aus sechs ehemaligen Bären-Gewinner:innen – konnte es sich sogar leisten, drei der besten Beiträge zu ignorieren. Dominik Graf hätte für seine furiose Kästner-Verfilmung „Fabian“ eine kleine Auszeichnung verdient.
Dass Céline Sciamma mit ihrer traumwandlerischen Mutter-Tochter-Miniatur „Petite Maman“ und Aleksandre Koberidzes modernes Märchen „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen“ leer ausgingen, lässt sich aber wohl nur damit erklären, dass unsere Corona-Zeit mit dieser Art von weltentrückter Offenheit und sinnlicher Haptik gerade wenig anzufangen weiß. Dem Namen Koberidze wird man im Weltkino noch öfter begegnen.
Die Schauspielpreise gehen an Darstellerinnen
Im zweiten Jahr unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian haben sich auch die Profile des Wettbewerbs und der Reihe „Encounters“ deutlicher konturiert. Ohne die großen US-Produktionen des vergangenen Jahres wirkt die Reihe geschlossener, was sich schon an den beiden Gewinnern ablesen lässt.
In ihrer persönlich gefärbten Langzeitstudie „Nous“, die am Dienstag auch den Dokumentarfilmpreis der Berlinale erhielt, porträtiert Alice Diop mit viel Sinn für kulturelle und soziale Unterschiede zahlreiche Menschen, die entlang der wichtigsten Pariser Pendlerstrecke leben. Der „Encounters“-Regiepreis für die Schweizer Brüder Ramon und Silvan Zürcher für ihre komische Verhaltensstudie „Das Mädchen und die Spinne“ zeichnet eine ähnlich feine Beobachtungsgabe aus, die allerdings orchestriert ist wie ein Flohzirkus.
Doppelt erfreulich ist der Silberne Bär für Maren Eggert für ihre Hauptrolle in Maria Schraders Roboter-Romantic-Comedy „Ich bin dein Mensch“. Eggert gehört zu den stillen Stars des deutschen Kinos, besitzt jedoch eine magnetische Präsenz. Und ein wunderbar komödiantisches Timing, wie man nun weiß. Mit dem Preis für die beste Nebenrolle für Lilla Kizlinger aus Bence Fliegaufs „Forest – I See You Everywhere“ hat sich auch die Entscheidung für genderneutrale Schauspielpreise bewährt. Die Berlinale geht mit gutem Beispiel voran.