„White Bird“ im Kino: Eine Wunderwelt gegen den Faschismus
In jeder Kindheit wird die Gesellschaft neu erfunden. Die Anführer der Jungen erproben ihre Macht, versichern sich ihrer Gefolgsleute. Die Mädchen halten sich etwas abseits; statt Hierarchien zu bilden, tragen sie vorzugsweise Beliebtheitswettbewerbe aus. Zu den kindlich-jugendlichen Königtümern gehören natürlich die Hofnarren, die eine Art Freibrief haben, aber dafür auch nicht wirklich zählen. Und dann sind da noch die, zu denen keiner gehören möchte.
„White Bird“ beobachtet die Dynamik dieser kindlichen Sozialordnung mitsamt ihrer mitunter erstaunlichen Erbarmungslosigkeit gleich auf zwei zeitlichen Ebenen – und das mit sehr genauem Blick. Nicht zuletzt darin liegt der Reiz des Films von Marc Forster, der auf den gleichnamigen Comic von Raquel J. Palacio zurückgeht.
Mitleid mit dem Mobber
Das sollte man wissen, denn „White Bird“ nimmt seine Graphic-Novel-Herkunft auf ebenso irritierende wie souveräne, manchmal auch fragwürdige Weise auf. Daher wohl auch die Überpräsenz des titelgebenden Vogels als Hoffnungssymbol.
Einen indirekten filmischen Vorläufer gibt es auch. Schon in der Jugendbuchverfilmung „Wonder“ mit Owen Wilson und Julia Roberts hatte Julian (Bryce Gheisar), der sein Selbstbewusstsein vor allem durch das Mobbing eines Mitschülers gewann, eine kleine Rolle. Am Anfang von „White Bird“ muss er für sein Verhalten die Konsequenz tragen, gleich am ersten unbehaglichen Tag an einer neuen Schule.
Nun befindet er sich in der fatalen Situation, nicht dazuzugehören. Noch nicht? Niemals? Beim Mittagessen sitzt er allein, nur ein Mädchen fragt mitleidig, ob neben ihm noch frei sei – was nun wirklich nicht zu übersehen ist. Und schon ist der hiesige Wortführer zur Stelle, um die Rangordnung anzudeuten. Julian hat am ersten Schultag bereits genug.
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Leider ist bei ihm zu Hause gerade seine französische Großmutter (Helen Mirren) zu Besuch, in deren Gegenwart Schweigen keine Option ist. Der neue Lebensplan des Enkels, sich künftig aus allem Ärger herauszuhalten, weckt ihren lebhaften Widerspruch.
Und so erzählt sie zum ersten Mal ihre eigene Geschichte. Und die – die eigentliche des Films – hätte „White Bird“ mühelos auch ganz allein getragen. Rahmenhandlungen machen Filme nur selten stärker. Andererseits: Ist Leben nicht Weitergabe, zumal, wenn man wie Helen Mirrens Sara Überlebende der eigenen Kindheit ist?
„White Bird“ ist nach „One Life“ mit Anthony Hopkins die zweite Holocaust-Geschichte im Abstand von zwei Wochen. Doch wo „One Life“ vorhersehbar inszeniert war, was ihm seine erzählerische Dynamik nahm, bleibt hier vieles offen und birgt zudem eine wunderbare unwahrscheinliche Welt in sich, die sich zwei junge Menschen miteinander in größter Not schaffen.
Jüdische Mitschüler werden zu Ausgestoßenen
Eine burgähnliche Schule im Elsass, Anfang der 1940er Jahre: ein ähnliches Szenario wie Jahrzehnte später bei Julian, nur viel auswegloser. Tonangeber Vincent erprobt seine Machtansprüche vorzugsweise an Julien (Orlando Schwerdt), einem Jungen mit durch Kinderlähmung verkrümmtem Bein. Die anderen lachen anerkennend über die seelischen und körperlichen Grausamkeiten, die Mädchen schauen möglichst weg und schwärmen trotzdem für Vincent. Auch die junge Sara, gespielt von einer wunderbaren Ariella Glaser.
Ihre nachträgliche Erklärung dafür, sinngemäß: Saras Kindheitswelt bis dato war zu rund, um das Unrunde wirklich wahrzunehmen. Und dann verkehrt sich alles: Plötzlich sind Sara und die wenigen jüdischen Mitschüler die Ausgestoßenen und kein anderer als Julien, von allen nur „Tourteau“, die Krabbe, genannt, rettet Sara vor den Nationalsozialisten. Bedingungslos.
Ariella Glaser und Orlando Schwerdt geben ihren Figuren alle Nuancen, alle Empfindlichkeiten, alle Schauder eines ersten vorsichtigen Einander-Näherkommens. Das junge Mädchen darf die Scheune von Juliens Familie nicht verlassen, also schaffen sie in diesem rettenden Gefängnis eine Welt, die nur zwei Bürger hat: Sara und Julien. Vielleicht sind solch surreale Erfahrungen die tiefsten, die Menschen machen können. Sie erfinden und zeigen sich gegenseitig all die Orte, die sie wohl nie sehen werden.
Marc Forster, der zuletzt mit Tom Hanks „Ein Mann namens Otto“ gedreht hat, lässt uns verstehen, dass diese Welt viel wirklicher ist als alles da draußen. Er zeigt auch die kleinen, kalten Sprünge, die diese Wunderwelt mitunter bekommt; denn die Spannung, unter der beide stehen, ist zu groß. Dabei wäre es auch gar nicht nötig, dass der weiße Vogel immer wieder durch die Szenen fliegt. Der Kitsch verärgert, und doch zerstört er den Film nicht.
Nicht einmal die höchst irreale Entscheidung im Wald, als die fliehende, eigentlich chancenlose Sara ihrem Nazi-Verfolger, dem früheren Mitschüler Vincent, entkommt, ändert daran etwas. Dass der mit Dauerfeuer auf das Mädchen zielt, ist wirklich eine Zumutung.
Wirklich verstimmt – nach dem Zerbrechen der Scheunenwelt – nur die Rückkehr zur Rahmenhandlung: sehr moralisierend, sehr zeigefingerhaft, woran auch Helen Mirren nichts ändert. Im Gegenteil. Wir gehen nicht ins Kino, um erzogen zu werden. Ein wirklich souveräner Film hätte seinen Bildern vertraut, das auszusprechen, was Worte nur schmälern können.