Springers einsamster Reiter: Franz Josef Wagner wird 80 Jahre alt

Gott weiß, wie gerne Franz Josef Wagner noch einen starken Satz schreiben würde. Fünfmal die Woche, von montags bis freitags, jagt er ihm in seiner „Bild“-Kolumne „Post von Wagner“ hinterher, seit über 20 Jahren. Wagner ist Springers einsamster Reiter, ein Mann, der in den Unendlichkeiten seiner Charlottenburger Altbauwohnung noch immer davon träumt, das Tor zur Dichtung aufzustoßen.

„Nun ist ein Löwe entflohen“, schrieb er, als jüngst eine Berliner Wildsau durchs Sommerloch getrieben wurde. Das soll ihm niemand vorwerfen. Der Teufel hockt buchstäblich im Detail des nächstens Satzes: „Der Pudel ist ein Löwe geworden, ein echter Löwe. Groß, muskulös. Mit 70 km/h Geschwindigkeit springt er Opfer an. Es ist etwas Wildes in der Stadt. Etwas, das stark ist. Ein wildes Tier. Das macht uns Angst.“

Wo, Freunde der Sprachlogik, kommt auf einmal der Pudel her? Hat er sich geradewegs aus Fausts Studierzimmer in diesen Text verirrt und treibt dort als eine der vielen mephistophelischen Metamorphosen sein Unwesen? Zwinkert Wagner hier bewusst seinem Spitznamen „Gossen-Goethe“ zu? Oder bedient er sich einer Sprache des Herzens, die gar nicht erst versucht, den Umweg über den Verstand zu nehmen?

„Herzlichst Ihr …“ unterschreibt Wagner, als könnte er seine Leser auf eine Weise umgarnen, die das gedanklich Sprunghafte seiner Kolumnen vergessen macht. Zwischen dem Freiwilligen und dem Unfreiwilligen lässt sich dabei schwer unterscheiden. „Am Anfang des Lebens war das Feuer gut“, schrieb er über die Brände auf Rhodos. „Es brachte Licht in unsere Welt, Wärme. Mithilfe des Feuers konnten wir Fleisch essen. Unsere Gebisse wurden stärker. Das Feuer war auch religiös. In einem brennenden Dornenbusch erschien uns Gott.“

Das mit den Gebissen ist komisch. Der Rest ist von hoher Schlichtheit: Von der grundsätzlichen Ambivalenz der Elemente will dieser Text so wenig wissen wie ein anderer Text über die sommerlichen Klimaextreme: „Vor hundert Jahren genossen die Menschen ihren Sommer. (…) Sie waren einfach glücklich mit ihrem Sommer. Was haben wir alles falsch gemacht?“

Weiter wollen Wagners Texte gar nicht kommen. Genau damit verkörpern sie aber ein Prinzip des Boulevardjournalismus, das lautet: Bewegen um des Bewegens willen. Wörter in Sätzen unterbringen, die den Blutdruck hochtreiben oder eine Hormonausschüttung bewirken, aber keinerlei argumentative Ebene erreichen. Wie gerne schwelgt Wagner in Bildern von Licht und Finsternis, Sonne und Regen. „Russland hatte einmal so viele gute Männer“, klagt er. „Tolstoi, Dostojewski, Gorbatschow. Heute ist es so, als würde die Sonne über dieses Land nicht mehr scheinen.“ Und in Trump entdeckt er zwar keinen schwarzen Pudel, aber etwas Verwandtes: „Manchmal nachts, als Letztes vor dem Einschlafen, zähle ich schwarze Schafe. Putin, Kim Jong-un. Trump gehört nicht zu den schwärzesten Schafen. Aber er ist schrecklich.“

Das ist, und darin besteht Wagners größte Originalität, nicht nur Kitsch. Es ist Kitsch, der darum ringt, noch einmal wahr zu sein: Er will die Gültigkeit des Klischees gegen dessen eigene Verbrauchtheit durchsetzen. Ist das, könnte man fragen, nicht überinterpretiert? Lohnt die Auseinandersetzung mit Texten, deren Autor längst als Auslaufmodell mit Kuriositätsfaktor gilt?

In Franz Josef Wagner meinen viele, einen sympathischen Haudegen vom Schlage eines Baby Schimmerlos zu erkennen, wie ihn Franz Xaver Kroetz in „Kir Royal“ spielte. Zu seinem 80. Geburtstag am Montag windet Wagner zwar keiner Dichterkränze. Als Repräsentant einer untergehenden Epoche genießt er dennoch Popruhm – egal wie viele Mitarbeiter er als Chefredakteur von „Bunte“ und „B.Z.“ in den Wahnsinn getrieben hat. Franz Josef Wagner ist der letzte König jener klassenlosen Gesellschaft von Großkopferten, die sich einst, Seite an Seite mit seinen Freunden Helmut Dietl, Bernd Eichinger, Jörg Fauser und Wolf Wondratschek im Münchner Schumann’s an der Maximilianstraße zusammenfand. Ihm heute weiter zu huldigen, ist auch ein Zeichen von Phantomschmerz.