Dominic Lobalu kämpft um WM-Startplatz: Die Leiden des Wunderläufers

Markus Hagmann erinnert sich noch sehr gut an den Tag, an dem er Besuch von einem jungen, zurückhaltenden Mann bekam. „Es war im August 2019. Er wirkte körperlich und psychisch leer“, erzählt der 48-Jährige. „Aber wenn man sich mit diesem Sport auskennt, also man muss es sehen, wie er seine Füße auf den Boden aufsetzt, diese Leichtfüßigkeit. Seine Bewegungen haben mich direkt fasziniert“, sagt Hagmann über den Mann namens Dominic Lobalu.

Markus Hagmann selbst versteht sehr viel vom Laufen. Er wurde Schweizer Meister über 3000 Meter Hindernis, seit vielen Jahren trainiert er Dutzende Athletinnen und Athleten beim LC Brühl, einem Verein in St. Gallen in der Schweiz.

Einen Athleten wie Dominic Lobalu hatte er aber noch nicht. Lobalu darf man ohne Übertreibung als Laufwunder bezeichnen. Dabei hatte er, als vor vier Jahren bei Hagmann aufkreuzte, noch nie unter professioneller Anleitung trainiert. Was er aber vorzuweisen hatte: ein Leben, vollgepackt mit unendlich viel Leid, Drama und Tragik.

Lobalu wächst während der Bürgerkriegswirren im Südsudan auf, in denen bis zur Unabhängigkeit des Landes im Jahr 2011 zwei Millionen Menschen ihr Leben verlieren. Darunter auch die Eltern und Großeltern von Dominic Lobalu. Er selbst schafft es mit seiner Schwester über die Grenze nach Kenia. Da ist er gerade mal acht Jahre alt. Aber die Tortur ist damit für ihn noch nicht vorbei.

Lobalu landet mit seiner Schwester im Flüchtlingslager Kakuma. Zusammen mit 150.000 Menschen, ohne Strom und fließendes Wasser. Während Lobalus Schwester in Kakuma bleibt, versucht er sein Glück in Nairobi. Er geht dort zur Grundschule, lebt in einem Waisenhaus. Mit 15 beginnt er zu laufen. Sein Talent führt ihn mit 17 Jahren ins Geflüchtetenteam, das nahe Nairobi zusammen trainiert. 2017 nimmt er für das Team bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London teil. Die große Welt des Sports öffnet sich ihm.

Im Flüchtlingslager Kakuma befanden sich bis 200.000 Menschen, als sich Lobalu dort aufhielt.
Im Flüchtlingslager Kakuma befanden sich bis 200.000 Menschen, als sich Lobalu dort aufhielt.
© imago images/Joerg Boethling

Doch der Spalt ist noch zu klein. Das Training im Flüchtlingsteam erfüllt nicht die professionellen Standards, die nötig sind, um ganz vorne mitlaufen zu können. Zudem, so erzählte es Lobalu dem St. Galler „Tagblatt“, landen seine Preisgelder fast überall, nur kaum etwas bei dem, der sie erlaufen hat, bei ihm selbst.

Im Mai 2019 setzt er sich nach einem Rennen in Genf in die Schweiz ab. Er stellt einen Antrag auf Asyl, der abgelehnt wird. Wegen der humanitären Situation im Südsudan darf Lobalu aber nicht abgeschoben werden. Er bekommt den Status F, er ist eine vorläufig aufgenommene ausländische Person. Der Betreuer der Integrationseinrichtung, in der Lobalu lebt, meldet sich bei Hagmann und fragt, ob er sich den Läufer nicht mal ansehen wolle. Das ist der Beginn der Geschichte, die jetzt schon eine Erfolgsgeschichte ist, die aber noch so viel größer sein könnte.

Markus Hagmann und Dominic Lobalu haben ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut.
Markus Hagmann und Dominic Lobalu haben ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut.
© IMAGO/Beautiful Sports

„Am Anfang war vor allem das Talent“, erzählt Hagmann. „Mir war aber klar, dass da wahnsinnig viel Arbeit vor uns liegt.“ Lobalu ist große Trainingsumfänge zu Beginn nicht gewohnt. „Schon nach 40 Kilometern in der Woche hatte er körperliche Probleme“, sagt Hagmann. „Und 40 Kilometer sind für Spitzenläufer nichts.“ Doch die beiden trainieren hart. „Rumpfkraft, Stretching, Erholung“, das alles war im Flüchtlingsteam kein Thema. Bei Hagmann schon.

Die Fortschritte sind enorm. Lobalu schafft eine persönliche Bestleistung nach der anderen. Doch es gibt einen bitteren Rückschlag: In der Schweiz erreicht ihn die Nachricht vom Tod seiner Schwester im Flüchtlingslager Kakuma. Es ist ein weiterer schwerer Schicksalsschlag für einen Mann, der schwere Schicksalsschläge gewohnt ist.

Lobalu aber läuft weiter, und er läuft immer schneller. Seine große Stunde schlägt Ende Juni 2022 bei der Diamond League in Stockholm. Die Diamond League ist das Pendant zu Champions League im Fußball. Nur die Besten sind am Start. Als Lobalu in Stockholm sein Debüt in der Serie gibt, gewinnt er direkt über 3000 Meter in der Wahnsinns-Zeit von 7:29,48 Minuten. Nun ist er kein Talent mehr, Lobalu ist jetzt ein internationaler Medaillenkandidat.

Die Frage ist nur, Medaillenkandidat für wen? Er ist ein Läufer ohne Land. In der Schweiz hat Lobalu inzwischen den Status L, er ist offiziell eine selbstständig-erwerbende Person aus Kultur oder Sport des öffentlichen Interesses. Die Schweizer Staatsbürgerschaft hat er damit aber nicht. Diese bekommt Lobalu frühestens im Jahr 2034. Ausnahmen machen die Schweizer nicht, nicht einmal dann, wenn dies ihnen Gold bei Olympischen Spielen einbringen könnte.

Bliebe für Lobalu noch eine Rückkehr ins Flüchtlingsteam, das an internationalen Sportveranstaltungen wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen teilnahmeberechtigt ist. Doch der Weg dorthin zurück scheint nicht mehr möglich, weil das Team nur Athleten starten lässt, die in Kenia trainieren. Seinen Trainer Markus Hagmann macht das nachdenklich. „Dominic ist immer noch dieselbe Person wie früher, als er für das Flüchtlingsteam auflief“, sagt er und fragt: „Warum also soll er jetzt international nicht mehr starten dürfen?“

Eine Antwort darauf haben sowohl das Flüchtlingsteam als auch der Leichtathletik-Weltverband bislang nicht gegeben. „Im Moment passt Dominic in kein Raster“, sagt Hagmann. „Es darf im Sinne des Sports nicht sein, dass einer der besten Läufer nicht antreten kann.“ Hoffnung macht nun ein Antrag des Schweizer Leichtathletikverbandes beim Weltverband. Die Schweizer wollen eine Ausnahmebewilligung für Lobalu erwirken.

Die Zeit aber drängt. Schon im August sind die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Budapest. Lobalu wäre sicher ein Medaillenkandidat über 5000 Meter. Und bei seiner traurigen Geschichte gäbe es wohl niemandem, der ihm das nicht von Herzen gönnen würde. Es liegt nun offensichtlich an den Funktionären des Sports, ob auch sie ein Herz für diesen Ausnahmeathleten haben.