Warum plötzlich alle wie Therapeuten klingen wollen
Wer die vergangenen zehn Jahre nicht in einem Eisschrank verbracht hat, wird gemerkt haben: Eine neue Zeitrechnung des Inneren hat begonnen. Superstars wie Billie Eilish reden öffentlich über ihre Depressionen, unzählige Podcasts und Social-Media-Kanäle widmen sich dem Thema Therapie. Keine Generation hat je so offen über ihre mental health gesprochen wie die Millennials und die etwas jüngere Generation Z. Und nie war Therapie-Vokabular, zumindest in einigen Milieus, ein so selbstverständlicher Teil der Alltagssprache – was oft kuriose Folgen hat.
Seit Jahren liest man von „triggern“, wenn es um Worte geht, die für eine Person unschön, aber nicht – wie im ursprünglichen Sinne des Begriffs – retraumatisierend sind. In Posts und Videos stellen Medizin-Laien Diagnosen, mit denen sich Profis oft schwertun: Eine TikTokerin warf die These auf, dass 95 Prozent aller Raver ADHS hätten oder Autisten seien – weil „neurotypische“ Menschen wohl kaum Freude daran hätten, stundenlang zu monotoner Musik zu stampfen.
Es ist die Stunde der Pop-Psychologie. In sozialen und traditionellen Medien blüht ein Vokabular, das die Autorin Jessica Bennett in der „New York Times“ als „TikTok pseudo-psychology“ bezeichnet hat: ein Therapie-Slang, bei dessen Nutzung oft einiges durcheinandergeht. Um zu verstehen, wie durchlässig die Grenzen zwischen Normalisierung und Banalisierung psychischer Probleme längst sind, genügt ein Rundgang durchs Internet.
Freches Verhalten ist nicht gleich systematischer Missbrauch
Im Jahr 2018 kürten das Oxford Dictionary „toxic“ zum Wort des Jahres, weil man ihm eine „kulturelle Bedeutung“ auf lange Zeit prophezeite. Tatsächlich hat es geklappt mit der Karriere als Buzzword, das gern für alle Fälle von (selbst-)verletzendem Arschlochgebaren benutzt wird. „Woran erkennst du toxisches Verhalten beim Dating?“, wollte „Ze.tt“, das junge Portal der „Zeit“, kürzlich von den Leser:innen wissen. „Du hattest dich auf das Date gefreut, doch dann spricht die andere Person nur über ihre Erfolge oder schlecht über ehemalige Partner:innen“, heißt es weiter. „Auf Social Media werden diese Warnsignale Red Flags genannt – Verhaltensweisen, die auf eine spätere toxische Beziehung hindeuten.“ Oder darauf, dass man seinen Abend an einen Unsympathen verschwendet hat.
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Ähnlich inflationär wie „toxisch“ wird der Begriff „gaslighting“ benutzt: eine Manipulationsstrategie, die nach Patrick Hamiltons Theaterstück „Gas Light“ von 1938 benannt ist. Darin treibt ein Mann seine Ehefrau in den Wahnsinn. Das Ziel von Gaslighting ist, eine Person an ihrer Wahrnehmung zweifeln zu lassen.
In Donald Trumps Regierungszeit tauchte der Begriff zunehmend in der Berichterstattung auf. „Gaslighting America: Why We Love It When Trump Lies to Us“ heißt ein 2018 erschienenes Buch der US-Journalistin Amanda Carpenter. Ob gezieltes „Fake News“-Streuen und „Gaslighting“ sich ähneln, kann man sicher diskutieren. Als Synonym für plumpes Rumgelüge taugt der Begriff aber nicht. Auf Twitter machte kürzlich der (inzwischen gelöschte) Post einer Lehrerin, die einem Schüler „gaslighting“ unterstellte, die Runde: Er hatte versucht, ihr einzureden, sie habe der Klasse keine Hausaufgaben gegeben. Das ist frech, klingt aber nicht nach systematischem Missbrauch.
Nicht jedes Verhältnis, das einem nicht gut getan hat, war „toxisch“
Ein ähnliches Schicksal wie „gaslighting“ hat der Begriff „love bombing“ hinter sich. Der wurde mal verwendet, um zu beschreiben, wie Sektenführer Mitglieder rekrutieren: Sie überschütten eine Person mit Liebe, um sie emotional an sich zu binden. Auch in ungesunden Partnerschaften kann gelovebombt werden.
Die US-Onlinezeitung „HuffPost“ aber verstieg sich zur Behauptung: „If You’ve Online Dated, You’ve Probably Been Love Bombed“ – beim Onlinedating habe „wahrscheinlich“ jeder Erfahrungen mit love bombing gesammelt. Wie solche Erlebnisse aussehen können, zeigt die Instagram-Seite „The Just Girl Project“ mit 800 000 Followern: Exzessives Komplimentemachen, nonstop Nachrichten schreiben, all sowas könne auf „love bombing“ hindeuten. Bricht man eine Manipulationstaktik auf Insta-Kachel-Größe herunter, erscheinen Übersprungshandlungen plötzlich pathologisch.
Nicht jedes Verhältnis, das einem nicht gut getan hat, war „toxisch“. Nicht hinter jeder Marotte muss eine psychische Erkrankung stehen. Und nicht jeder, der versucht, einem Unsinn zu erzählen, ist ein „Gaslighter“. Wer schwerstes rhetorisches Geschütz auffährt, um kleine Unannehmlichkeiten zu beschreiben, schadet einer ehrlichen Debatte über psychische Gesundheit mehr, als ihr zu nützen.
Die Rhetorik ist keine Erfindung von Jugendlichen auf TikTok
Zum einen, weil solche Überspitzungen das Leid von Betroffenen relativieren können. Zum anderen, weil sie eine beliebte, aber gefährliche konservative Erzählung nähren: nämlich die, dass psychische Krankheiten grundsätzlich Modediagnosen seien, Accessoires für überspannte Teens auf Identitätssuche.
Dabei ist diese Rhetorik eben keine Erfindung von Jugendlichen auf TikTok – sondern ein Effekt dessen, was Eva Illouz als „therapeutischen Diskurs“ bezeichnet. In ihrem Buch „Die Errettung der modernen Seele“ beschreibt die israelische Soziologin, wie Sigmund Freud, der Godfather der Psychoanalyse, das allgemeine Interesse an der Beschäftigung mit der eigenen Psyche geweckt hat. So nachhaltig, dass um seine Lehren eine Industrie entstand. Die wirft stetig neue populärwissenschaftliche Ratgeberbücher und Filme ab.
Heute können nicht mal mehr Filmgangster harte Hunde sein, ohne uns von ihrem Trauma zu erzählen: In der US-Serie „The Sopranos“ musste Mafiaboss Tony auf die Therapie-Couch. Auch James Bond litt in seinen letzten Abenteuern an seiner Männlichkeit und der Trauer um seine Geliebte.
Die Gesellschaft hat Psycho-Talk zur Ware gemacht
Die junge Generation wuchs in einer Kulturlandschaft auf, in der Trauma gern als narrativer Kniff genutzt wird. Und das nicht immer sensibel, sondern oft in ausbeuterischer Weise. Im Magazin „New Yorker“ warf die Kritikerin Parul Sehgal kürzlich die Frage auf, ob sich die Gegenwartsliteratur einen Gefallen damit tut, ihren Figuren Entwicklung nur in Folge traumatischer Ereignisse zuzugestehen.
Wer lernt, dass Trauma die Grundlage ist, um wachsen zu dürfen; wer dann noch realisiert, wie oft leisen, auf Zwischentöne bedachten Menschen in Not nicht geglaubt oder geholfen wird, bedient sich eben schnell einer grellen Sprache. Dazu kommt, dass Diagnosen erleichternd sein können. In unübersichtlichen Zeiten wächst das Bedürfnis, klar zu benennen, was falsch läuft, vielleicht sogar „Schuldige“ ausfindig zu machen.
Nicht alles an der Demokratisierung des Therapie-Slangs ist falsch, im Gegenteil. Man kann froh um jeden sein, dem Online-Austausch und Sharepics dabei helfen, Probleme zu erkennen und Hilfe zu finden. Auch junge oder unbedarfte Leute, die jede Gemeinheit zur „emotionalen Gewalt“ umdeuten, verdienen – bis zu einem gewissen Punkt – Empathie.
Die Gesellschaft hat Psycho-Talk zur Ware gemacht. Wütend werden sollte man also nicht auf Teenager, die diese Ware nun gutgläubig kaufen. Sondern auf verantwortungslosen „trauma porn“ in Film und Literatur, auf Autor:innen, die flache „Fünf Zeichen, dass du depressiv bist“-Artikel ins Netz schießen. Auf Werberinnen und Influencer, die einem jeden Quatsch mit Verweis auf die mental health andrehen. Zu realisieren, dass deren Heilsversprechen viele Probleme am Ende doch nicht lösen, kann für verunsicherte Menschen traumatisch sein. Oder einfach: richtig scheiße.