Die Beamtin wollte Inge Deutschkron Sara nennen – nach dem Krieg

Als an ihrem 21. Geburtstag Bomben fielen auf Berlin, schöpfte Inge Deutschkron neue Hoffnung. Vielleicht brachten die Briten Rettung vor den Nazis, die ihren Tod wollten. Damals versteckte sich die junge Jüdin in Wilmersdorf, in einem Haus in der Sächsischen Straße. In jenen Tagen hörte sie oft den Gruß „Bleib übrig.“ Das gelang der Berliner Ehrenbürgerin bis zum 9. März 2022. Sie starb im Alter von 99 Jahren nach einem Leben, das dem Kampf gegen den Antisemitismus gewidmet war.

„Ab heute heißt Du Sara“, ist der Titel eines der bekanntesten Grips-Theaterstücke. Es geht zurück auf die Autobiografie, die Inge Deutschkron 1978 berühmt machte: „Ich trug den gelben Stern“.

Dass sie Jüdin war, erfuhr sie erst 1933. Ihre Mutter sagte es ihr. Religion hatte in der Familie keine Rolle gespielt, tat es auch später nicht in ihrem Leben. Ihr Vater, SPD-Mitglied und Gymnasiallehrer, wurde nach der Machtübernahme der Nazis wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ aus dem Schuldienst entlassen.

Über eine Cousine konnte er Deutschland Anfang 1939 verlassen, wollte eigentlich Frau und Tochter nachholen. Als im selben Jahr am 1. September der Zweite Weltkrieg begann, war das unmöglich geworden. Es folgten Jahre, in denen sie ständig auf Hilfe angewiesen waren.

Die gut informierte Waschfrau

Otto Weidt, ein Anstreicher aus Rostock, der praktisch erblindet war, half ihr, indem er sie als kaufmännische Angestellte in seiner Blindenwerkstatt aufnahm. Im Wintergarten ihrer gemütlichen Wohnung , erinnerte sie sich später immer wieder an die guten Menschen jener Jahre. Da war die Waschfrau, die der Mutter das Versprechen abnahm: „Lassen Sie sich und Ihre Tochter nicht deportieren“.

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Von Soldaten in Polen hatte sie erfahren, was in den Konzentrationslagern geschah. Dann war da die katholische Bäckersfrau in der Droysenstraße, die Hilfe anbot. Auch Mitglieder einer linkssozialistischen Widerstandsgruppe halfen.

Es sollte sieben Jahre dauern, bis sie den Vater wiedersah. Erst 1946 konnte sie mit der Mutter zu ihm nach London ziehen. Nach dem Studium wurde sie dort zunächst Sekretärin der Sozialistischen Internationale. Nach einer langen Asienreise kehrte sie 1955 nach Deutschland zurück und arbeitete als Journalistin, unter anderem als Korrespondentin für eine israelische Tageszeitung.

„Ich weiß nicht, was ich in diesem Land noch soll“

Für „Ma’ariv“ berichtete sie auch über die Auschwitz-Prozesse. Von 1972 bis 1988 lebte sie in Tel Aviv. In Deutschland wollte sie damals nicht bleiben wegen des wieder aufkeimenden Antisemitismus. Dass es so viele Ex-Nazis in hohe Ämter geschafft hatten, fand sie abstoßend. Als sie nach dem Krieg einen deutschen Pass beantragte, wollte die Beamtin unbedingt den Namen „Sara“ eintragen, der ihr von den Nazis zwangsweise verpasst worden war.

Nach der Rückkehr 1988 aus Anlass des Grips-Theater-Stücks erlebte sie, wie im Anschluss an die Wiedervereinigung erneut der Rechtsradikalismus aufflammte. „Ich weiß nicht, was ich in diesem Land noch soll“, sagte sie dem Tagesspiegel im November 1992. Die Folge war eine Flut von Solidaritätsbekundungen, auch von Kindern.

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Also blieb sie, berichtete über all das Schreckliche, was ihr wiederfahren war. Sie hatte den Sadismus der Nazis nie vergessen, all die Vorschriften, nach denen Juden der Besitz von Reisepässen und Führerscheinen verboten war, nach denen sie keine Zeitungsabonnements haben durften, keine Haustiere, keine Fahrräder, keinen Schmuck, keine Ersparnisse, keine Seife. Sie durfte nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, musste bei Klassenfahrten fehlen, durfte nicht ins Kino, nicht in die Bibliothek, nicht in den Park oder ins Restaurant.

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Sie wollte, dass die Deutschen sich auch weiterhin mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinandersetzen. 2001 ließ sie sich ganz in Berlin nieder und gründete im Oktober 2006 ihre Stiftung, die auch die Erinnerung an die Männer und Frauen im Nationalsozialismus wachhalten sollte.

Am Ende ihres Lebens litt sie unter Demenz und musste in ein Seniorenheim ziehen. Freunde waren teilweise nicht glücklich über ihren Zustand. Am Ende ist sie friedlich eingeschlafen. Parlamentspräsident Dennis Buchner würdigte ihre historische Aufklärungsarbeit: „Sie besuchte unzählige Schulen, gründete den Förderverein ‚Blindes Vertrauen’ und rief im Rahmen ihrer Stiftung zu Courage auf.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte in seinem Kondolenzschreiben auch an die Rede, die sie 2013 im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gehalten hat: „Trotz allem, was ihr von Deutschen angetan wurde, hat Inge Deutschkron sich nicht von Deutschland abgewandt. Unermüdlich setzte sie sich dafür ein, dass wir die richtigen Lehren aus den Verbrechen während des Nationalsozialismus ziehen.“