Der doppelte Dracula
Was hilft am besten – Knoblauch oder Kruzifix? Obwohl Graf Dracula, der Untote mit den markanten Eckzähnen und unersättlichem Appetit nach frischem Blut, seit Erscheinen des Romans von Bram Stoker (1847-1912) im Jahr 1897 in zahlreichen Adaptionen bereits unzählige Tode gestorben ist (besonders wirkungsvoll: durch gezielte Sonnenbestrahlung oder mit angespitztem Holzpflock!), hieven Künstler seinen Sarg immer wieder aus der Gruft, um ihn in eigenen Versionen wiederzubeleben.
Neben populären, oft sehr frei mit dem Stoff umgehenden Verfilmungen mit Max Schreck, Bela Lugosi, Christopher Lee oder Gary Oldman in der Titelrolle gibt es auch zahlreiche Comicadaptionen, darunter manch lieblos produzierte Heftversion wie auch künstlerisch anspruchsvolle Neuschöpfungen wie „Nosferatu“ von Philippe Druillet, die sich (1989) an Friedrich Wilhelm Murnaus gleichnamigen Stummfilm anlehnte und eine sehr freie, dystopische Zukunftsversion des Vampirmythos schuf.
Nun legt der 1947 in Tunesien geborene Franzose Georges Bess (der zusammen mit Alejandro Jodorowski „Der weiße Lama“, „Hanibal 5“, „Juan Solo“ u.a. schuf, außerdem die Reihe „Der Vampir von Benares“) mit seinem 200 Seiten starken Band „Bram Stoker – Dracula“ (Splitter Verlag, HC, 208 S., 39,80 €) die wohl bislang getreueste Comicadaption des Stoffs vor.
In schwarzweißen, kontrastreichen und sehr fein gezeichneten Tuschebildern entwirft er eine an morbider Schönheit kaum zu übertreffende grafische Erzählung vor spätviktorianischer Kulisse.
Seine auf jeder Seite neu arrangierten Panels schweifen schwelgend über englische Küstenlandschaften und Friedhöfe wie über das karge Gebirge der Karpaten. Die handelnden Personen tauchen darin oft nur als Schattenrisse auf.
Nah am Geist von Stokers Roman
Die Jugendstilhaft-filigranen, mal lieblich-floralen, dann wieder gruftigen Details der oft übergroßen Tableaus sprengen oft den Panelrahmen und reichen in den weißen Hintergrund wie in einen Abgrund hinein.
Von der ersten Seite an geht es Bess darum, eine schaurige Atmosphäre zu kreieren, die dem Geist von Stokers Roman entspricht.
Erzählt wird, wie der junge Anwalt Jonathan Harker den Grafen Dracula in dessen Heimat Transsilvanien wegen eines Hauserwerbs in London besucht und dort einen nicht fassbaren Schrecken erlebt. Der Graf reist daraufhin ins englische Whitby, wo Harkers Verlobte Mina und deren Freundin Lucy ins Visier des blutdürstigen Vampirs geraten.
Dracula selbst erscheint als gestaltwandelndes Monster, das sich in jedes beliebige (Un-)Tier verwandeln kann. Zusammen mit dem Gelehrten Abraham van Helsing und weiteren Gefährten nimmt der nach England zurückgekehrte Harker den Kampf gegen die Bestie auf…
Georges Bess erzählt die bekannte Mär mit großem visuellem Einfallsreichtum kongenial nach, wobei ihm Harkers Reise zu Draculas Schloss besonders eindringlich gelingt. Vom wirklich furchterregenden Vampir und dessen Kontrahenten Abraham van Helsing abgesehen, sind die Charaktere allerdings ein wenig flach geraten.
Mitschüler hänseln den kleinen Vampir
Ein ganz anderes, sympathischeres Bild des Vampirs zeichnet der Band „Alles klar, Dracula“ (toonfish, Übersetzung Anne Thies-Bergen, 40 S., 12,95 €) der Franzosen Loïc Clément (Szenario) und Clément Lefèvre (Zeichnungen).
In ihrem Comic (bislang ein One-Shot, mit Potenzial zum Auftakt einer Serie) erzählen sie von einem noch kindlich-zarten Dracula, der in einem heutigen Ambiente wie andere Kinder zur Schule geht und dort aufgrund seiner „Andersartigkeit“ – spitze Zähnchen, rote Augen, sonnenempfindliche Haut, kein Spiegelbild… – von einer Clique Mitschüler gehänselt wird, indem sie etwa das Wort „Monster“ auf seine Stirn schreiben.
Das belastet die sensible Psyche des Jungen, der bei seinem alleinerziehenden Vampirvater Vlad – einem Vegetarier! – wohnt und rein gar nichts Bösartiges an sich hat, sehr.
Die Autoren schreiben so Draculas Backstory plausibel um und legen Wert auf die subtile Ausgestaltung von Details, etwa des Schlosses, in denen beide wohnen und von freundlichen Geistern im Haushalt unterstützt werden (auch die Haustiere sind Geister).
Die Umdeutung der Horrorstory zum Kindercomic ist durchaus kindgerecht und gelungen: Eine kleine niedliche Fledermaus flattert stets um den Jungen herum, und auch die in blau-grüne Töne getauchte Kolorierung des Bandes wirkt gar nicht bedrückend. Im Verlaufe der mit sanftem Humor erzählten Geschichte lernt der kleine Dracula, seinen Mitschülern auf intelligente Weise entgegenzutreten.