Das Gedächtnis des Theaters
Das Londoner Victoria & Albert Museum gehört zu den weltweit wichtigsten Museen für angewandte Kunst und Design. Scheinbar eine urbritische Einrichtung – auf dem Festland nennen wir so etwas kulturhistorisches Museum –, geht es doch auf den deutschstämmigen Gatten von Königin Victoria, Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zurück, der in dem Londoner Stadtteil South Kensington 1852 ein Museum für Kunsthandwerk als Bildungsstätte für die Einwohnerschaft gründete, das sich zu dem heutigen V&A entwickelte.
Präsentiert wurden also Produkte des Handwerks, besonders herausragende und bald auch die aus den damaligen Kolonien, ohne ein ausgesprochenes Kolonialmuseum zu werden! Die verschiedenen Sammlungen reichen von Mode (Schuhe, Kleidung, Hüte, Handtaschen) und Schmuck, über Porzellan, Möbel, Fotografien bis zu Skulpturen und Gemälden. Die Sammlungen aus den islamischen und fernöstlichen Ländern gehören zu den bedeutendsten ihrer Art weltweit.
Ein weiterer Deutscher, der international hochangesehene Martin Roth, vormals Leiter des Dresdner Hygienemuseums, übernahm 2011 die Leitung dieses Museums und entwickelte es in den fünf Jahren seines Direktoriums weiter zu einem der führenden Museen der Welt. 2016 verließ er nach dem Brexit-Plebiscit, das für ihn auch eine persönliche Demütigung bedeutete, Großbritannien und das V&A, ein Jahr vor seinem Tod.
Kostüme, Architektur, Texte, Fotos: Hier kommt alles zusammen
Der Schwerpunkt der Sammlungen des V&A liegt in der angewandten Kunst. In seinem Titel (Museum of Art, Design and Performance) hat sich aber auch das Theater manifestiert, und gerade seine Theaterabteilung (Theatre & Performance Collections) ist von ihrem Umfang wie von ihrer Strahlkraft eine der bedeutendsten Theatersammlungen der Welt. Sie droht auseinanderzufallen.
Begründet wurde sie durch die Initiative der Sammlerin Gabrielle Enthoven, die schon Mühe hatte das V&A davon zu überzeugen, ihre Sammlung zu übernehmen. Der Kampf dauerte von 1911 bis 1924. Seitdem wurde die Theatersammlung um ein vielfaches erweitert und ergänzt, nicht zuletzt durch die Arbeit zahlreicher hochmotivierter, spezialisierter wissenschaftlicher Mitarbeitender.
Über drei Millionen Fotos: von Szenenfotos und Rollenportraits bis zu Detailaufnahmen der Bühne oder fotografische Probendokumentationen, über 20 000 Bühnen- und Kostümentwürfe und über 20 000 Kostüme und Kostümteile. Darunter sind Hüte, Schuhe, auch Ballettschuhe zu verstehen, 250 000 sogenannte production files, also Programmhefte und Kritiken zu 250 000 Inszenierungen – dies sind nur einige wenige Kennzahlen, die für den Laien trocken Brot sind, für die Fachfrau oder den Fachmann aber schon andeuten, mit was für Schätzen man es hier zu tun hat oder eben haben könnte.
Vergleichbare Sammlungen sucht man in Deutschland vergebens
An einzelnen Beständen wären die zahlreichen Westend-Theater-Archive hervorzuheben, aber auch der Vorlass des Regie-Genies Peter Brook, oder die Nachlässe von Vivien Leigh, der Scarlett O’Hara in dem Hollywood-Klassiker „Vom Winde verweht“ von 1939 (und die Blanche in „Endstation Sehnsucht“ 1951) und von Max Reinhardts Bühnenbildner Ernst Stern.
Vergleichbare Sammlungen sucht man in Deutschland vergebens – vielleicht die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, das Deutsche Theatermuseum in München und das Archiv Darstellende Kunst der Berliner Akademie der Künste. Wie so viele international hoch angesehene Theatersammlungen liegt der Fokus aber auf der nationalen Theatergeschichte. Wie diese sich international vernetzen, einander inspirieren und beeinflussen, die englische Dramatik vor allen das deutschsprachige Theater, aber auch der Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, die viele Bühnenkünstler nach Großbritannien trieb, diese Geschichte ist noch nicht in Gänze aufgearbeitet.
Doch das V&A befindet sich in Not und natürlich ist die Pandemie daran schuld, die ein Finanzloch von 10 Millionen englischen Pfund (11 600 000 Euro) schlug und Umstrukturierungsmaßnahmen notwendig machen. Und natürlich soll dies auch genutzt werden, um den Tanker V&A zukunftsfähig zu machen.
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Doch die Geschichte der Theaterabteilung ist eine besondere: 1974 wurde tatsächlich aus der Theatersammlung ein eigenes Theatermuseum, passgenau in Covent Garden gelegen, dem auch heute noch legendären Londoner Theaterdistrikt. Dieses Museum wurde 2007 jedoch wieder geschlossen. Dabei ist es eine Binsenweisheit, dass sich Museen nicht selbst erhalten können, sondern auf Zuschüsse angewiesen sind. Ein Theatermuseum hat immer damit zu kämpfen, dass es im lebendigen Theater eine starke Konkurrenz hat, zumal in London.
Die Vielfalt der präsentierten Objekte, von der berühmten Flachware der Fotos, Rollen- und Regiebücher, der Bühnenbild- und Kostümentwürfe über die echten Kostüme selbst bis hin zu Requisiten und natürlich die audiovisuellen Aufzeichnungen, die heute in einer multimedialen Präsentation nicht fehlen dürfen, ist das eine.
Dem Theater dienen alle anderen Künste, arbeiten ihm zu
Aber Theater ist die gegenwartsbezogenste Kunstform überhaupt: es existiert nur jetzt und hier, selbst die kunstvollste Aufzeichnung kann das Ereignis nicht wieder erschaffen. Und so ist das Theater auch die Kunstgattung, die wie wenig andere präzise ein Abbild der jeweiligen Zeit liefert. Dem Theater dienen alle anderen Künste, arbeiten ihm zu: die bildende Kunst, die Musik, die Literatur, ja sogar die Architektur und seitdem es sie gibt, auch die Medienkunst. Man hat also ein Panorama sämtlicher Künste der Zeit. Um diese Kunst zu sammeln, zu archivieren, aufzubewahren und zu präsentieren bedarf es großer Erfahrung, großes Fachwissen und natürlich einer Begeisterung. Und was ist der Umstrukturierungs-Vorschlag des Direktors Tristram Hunt? Die bestehenden 13 Fachabteilungen aufzulösen, darunter auch die Theaterabteilung, und drei Hauptkomplexe zu bilden: Mittelalter/Neuzeit, 19. Jahrhundert, 20./21. Jahrhundert, dafür Stärkung der Digitalisierung und die Schaffung von Abteilungen für die Diaspora: Afrika-Amerika-Asien.
[Der Autor leitet das Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin.]
Die internationale Vereinigung der Theatermuseen, Bibliotheken und -archive startete daraufhin eine online-Petition, die binnen weniger Tage 18 000 Menschen unterschrieben. Die neueste Pressemitteilung des V&A lenkte nun scheinbar ein, verkündete, dass die Regierung die Arbeitsplätze der von Entlassung bedrohten Kuratoren und Kuratorinnen erst einmal bis zum September verhinderte und stellt als neue Idee vor, dass nun, wie es in der Tradition des 1852 gegründeten V&A liegt, die Bestände nach Materialarten betreut werden sollen: also Fotos zu Fotos, Papier zu Papier, Textil zu Textil.
Dieser Sammlungsansatz ist kein neuer, sondern ein uralter und das heißt hier auch ein veralterter, und er wird das bisherige Sammlungsprofil eines eigenständigen Departments of Theatre and Performance zum Erliegen bringen. Theater als synästhetische Kunstform lässt sich nur in Zusammenhängen sinnvoll sammeln und bewahren. Trennt man die Elemente, ergibt dies nur Flickwerk.