CDU-Grundsatzprogramm und Berlins Kultursenator: Kultur schließt ein, Leitkultur schließt aus
Die CDU verlangt in ihrem neuen Grundsatzprogramm von Migranten, die in Deutschland bleiben wollen, „sich im Sinne unserer Leitkultur an unsere Art zu leben anzupassen und sich zu integrieren“. Einmal abgesehen von den Fragen, was „unsere Art zu leben“ ausmacht, und wer mit „uns“ gemeint ist – auch die Frage, was „Leitkultur“ bedeutet, wartet auf eine Antwort. Und das schon seit mehr als zwei Jahrzehnten.
Kultur ging der Leitkultur voraus
Schon lange vor der Leitkultur gab es die Kultur. Mit diesem Wort bezeichnet man alles, was Menschen gestalten – im Gegensatz zur Natur, die sie vorfinden. Der Mensch betreibt eine Veredelung des Natürlichen. Aus der Brache wird das Kornfeld. Aus Pflanzen werden Gärten. Aus Tönen und Takten Sinfonien. Aus Buchstaben wird Literatur. So entsteht, verbunden mit bestimmten Haltungen, das, was wir heute gewöhnlich meinen, wenn wir von Kultur reden. Gemeint ist ein System von Regeln und Gewohnheiten, die das Zusammenleben und Verhalten der Menschen leiten.
Die Bedeutung dieser Regeln, ihre Summe macht Kultur zum verbalen Qualitätsausweis. Wenn etwas Kultur im Namen führt, ist das Besondere in Sicht. Kultur adelt einzelne gewöhnliche Tätigkeiten. Sie ist nicht mehr einfach das Gestaltete, Gepflegte, Gehegte. Sie entwickelt sich plural. Sie spreizt sich mit dem Ergebnis, dass es heute viele Kulturen gibt, aufgespritzte Realitäten. Es gibt eine Diskussionskultur, eine Jugendkultur, eine Hochkultur, eine Jagdkultur. Es gibt Streitkultur und Pflegekultur. Ein Papier des Wissenschaftsrates sprach von Lehrkultur und meinte etwas, was man früher ganz einfach Lehre genannt hat und durch die Verfassung schützen ließ, was aber offenbar noch weiteren Schutzes bedarf, so wie etwa in Potsdam Schloss Babelsberg und der Neue Garten, die einerseits zur deutschen Gartenkultur, geschaffen von Fürst Pückler gehören, aber andererseits auch zum Weltkulturerbe.
Als die Migranten kamen, gab es über Nacht eine Willkommenskultur. Eigentlich ging es um eine sichtbare Einstellung. Menschen verhalten sich auf eine Weise, an der Flüchtlinge erkennen, dass sie willkommen sind. Als die Flüchtlinge noch aus Schlesien kamen, war das Wort noch nicht bekannt. Als braune Schafe in der Bundeswehr entdeckt wurden, bekannte sich die Ministerin, wenn auch erst nach einigem Zögern, zu einer Fehlerkultur. Damit sind nicht gewöhnliche Fehler von gewöhnlichen Menschen gemeint, sondern zum Beispiel Fehler von Ministerinnen, zu denen man sich dann mit einer masochistischen Lust auch bekennt: Lust an der Sünde. Schon Herr von und zu Guttenberg hatte nach seinen Schreibfehlern für deren Eingeständnis eine Gegengabe verlangt: Anerkennung.
Und um die Fülle der Begrifflichkeit abzurunden: in Berlin gibt es ein Kulturforum, ein Kulturradio und eine Kulturbrauerei. Und neuerdings einen Kultursenator in Berlin, Joe Chialo, der es mit der Leitkultur wirklich ernst zu meinen scheint, wenn er bei Anträgen zur Kulturförderung ein Bekenntnis „gegen jede Form von Antisemitismus“ verlangt, und zwar mit Bezug auf eine ganz bestimmte und keineswegs unumstrittene Definition: Leitkultur durch Verordnung.
Man denkt zunächst: schön und gut, eine Kultur mehr, was soll’s? Man denkt: Wo ist da das Problem? Doch dann fallen die Schuppen vom Auge – warum „Leit…“? Ist Kultur nicht immer „leitend“? Ist nicht auch eine Leitkultur genau das, was man immer schon unter Kultur verstanden hat: „Ein System von Regeln und Gewohnheiten, die das Zusammenleben und Verhalten der Menschen leiten?“ Nein. Ist es nicht. Kultur ist prinzipiell etwas Grenzenloses, Leitkultur dagegen reduziert Kultur auf das, was aus einem bestimmten Blickwinkel das Beste an Kultur ist. Sie legt sich fest auf eine Auswahl, die diejenigen vorgeben, die die Auswahl vorgenommen haben.
In eine Kultur wird man hineingeboren. Sie bleibt ein freies Angebot. In eine Leitkultur wird man unter bestimmten Bedingungen eingelassen. Wer sich zu ihnen nicht bekennt, bleibt draußen. Kultur inkludiert, Leitkultur schafft Exklusion. Sie lässt ein und schließt damit aus. Sie spaltet.
Emigranten, Asylanten, Einwanderer sind schon lange, bevor sie Deutschland erreichen, in ihre je eigene Kultur hineingeboren. Doch aus der sind sie dann, meistens aus verständlichen Gründen ausgewandert. Aber wohin? Sind sie jetzt ohne Kultur, nicht mehr in der von gestern, noch nicht in der von morgen? Muss man sie also nicht, mit sanftem Druck, ein zweites Mal entkulturieren? Jetzt mit der Kultur des Landes, in dem sie künftig leben wollen? Und braucht es nicht genau für dieses Einbeziehen, dieses Inkludieren eine klare Vorstellung davon, was damit gemeint ist? Eben eine übersichtliche, nachvollziehbare Leitkultur? Eben einen definierten kulturellen Rahmen? So etwas wie eine Kulturkultur? Mit diesen Bestandteilen: „Menschenwürde, Rechtsstaat, Respekt und Toleranz“, aber auch dem „Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit“ und der „Anerkennung des Existenzrechts Israels“.
Im Programm der CDU wird der exklusive Charakter hervorgehoben, wenn es heißt: „Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden.“ Das klingt, auch wenn es nicht so gemeint sein sollte, wie kultureller Rassismus.
Als er noch Bundesinnenminister war, hatte Thomas de Maizière eine damals schon alte Debatte zur Leitkultur neu angestoßen, indem er eine deutsche Leitkultur nicht nur gefordert, sondern auch einige inhaltlich Momente genannt hat, die er dazu rechnet, vom Grüßen bis zum Grundgesetz.
In dem Streit, in den sich der Innenminister einmischte, ging es vor allem um drei Fragen, ob es nämlich eine solche Leitkultur überhaupt geben kann; und falls es sie noch nicht gibt: ob es sie nicht jetzt, angesichts von Millionen Flüchtlingen, geben müsste; und ob man sie, falls es sie geben muss, nicht nur postulieren, sondern auch halbwegs definieren kann, um damit einen Lebensrahmen zu benennen, in den sich Migranten, Einwanderer, Flüchtlinge einfügen sollten: einen Rahmen also für Integration.
Sehr deutsche Vorstellungen
Unterstellt wurde dabei, dass Integration mit dem Ziel einer Assimilation nicht nur wünschenswert, sondern notwendig ist, um das gesellschaftliche Klima erträglich zu gestalten – eine Vorstellung, die sehr deutsch zu sein scheint, wie die Geschichte von Immigranten in anderen Ländern rasch zeigen kann.
Anders als andere Kulturen ist aus dem Wort von der Leitkultur beides geworden: ein politischer Kampfbegriff mit Gefechtspausen, und ein Geist, den noch nie jemand gesehen hat. Ausgelöst hat die epidemisch auftretende Diskussion um dieses Wort im Jahr 1998 der Bochumer Politologe Bassim Tibi. Er wollte mit dem Wort Leitkultur eine Zielvorstellung beschreiben, die ein Gegenmodell gegen eine multikulturelle Gesellschaft, gegen Parallelgesellschaften in einem Land kennzeichnen sollte. Gemeint war damit: Alles muss irgendwie ein gemeinsames Zentrum haben, damit kein Chaos ausbricht.
Tibi sprach allerdings – ein wichtiger Punkt – nicht von einer deutschen, sondern von einer transnationalen, einer europäischen Leitkultur. Sie beschreibt nichts weniger als „westlich-liberale(n) Wertvorstellungen wie Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.“ Für Tibi braucht der Mensch eine solche Leitkultur, um seine Identität, seinen Standort bestimmen zu können. Es ist aber, nota bene, nicht eine nationale Identität, mit der ein biologisches Moment ins Spiel käme. Und es ist damit auch nicht gesagt, welchen Rang die „westlichen Werte“ in der westlichen Welt nicht nur verbal, sondern auch faktisch haben, etwa auch in EU-Ländern, die sich ihrer Illiberalität rühmen.
In der deutschen Diskussion beschreibt diese Leitkultur „im Sinne eines Wertekonsenses“ die Distanz zwischen Deutschen und Migranten. Die einen haben sie, die anderen brauchen sie. Aus der Distanz soll eine Klammer werden. Das Postulat der Leitkultur wirkt dabei wie eine soziale Vorsichtsmaßnahme. Sie unterstellt: wenn aus der Distanz keine Klammer wird, entstehen ethnische Konflikte. Kulturpluralismus, so Tibi seinerzeit, gebe es nur auf der Grundlage einer solchen Leitkultur, basierend auf dem, was Jürgen Habermas die „kulturelle Moderne“ nennt: den Vorrang der Vernunft vor der religiösen Offenbarung; Demokratie, die auf der Trennung von Religion und Politik basiert, Pluralismus und Toleranz. Also: erst die Einheit, dann die Vielfalt!
Was Tibi als europäische Leitkultur postuliert, wird in der deutschen Debatte nationalisiert. In der politischen Auseinandersetzung in Deutschland ist immer nur von einer deutschen Leitkultur die Rede, exemplarisch nachzulesen bei Jörg Schönbohm, der Tibis Begriff adoptiert, ebenfalls 1998, sich allerdings später davon distanziert hat. Zum Erstaunen vieler hat Theo Sommer den Begriff in der „Zeit“ zustimmend aufgegriffen, als er für „ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte“ plädierte.
Friedrich Merz hat die Debatte damals fortgesetzt, als er im Jahr 2000 Regeln für Einwanderung und Integration gefordert hat. Sommer sollte sein Kronzeuge sein. Doch der lehnte diese Ehre ab, mit dem Hinweis darauf, dass er sich nie gegen Zuwanderung ausgesprochen habe, was ihm jetzt unterstellt werde. Paul Spiegel, von 2000 bis 2026 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wies den Begriff damals ebenfalls zurück, weil er etwas Hierarchisches zum Ausdruck bringe.
Tibi wehrte sich gegen Vereinnahmung. Habermas gab zu bedenken: „In einem demokratischen Verfassungsstaat darf auch die Mehrheit den Minderheiten die eigene kulturelle Lebensform – soweit diese von der gemeinsamen politischen Kultur des Landes abweicht – nicht als sogenannte Leitkultur vorschreiben.“ Ganz anders wiederum argumentierte Norbert Lammert. Er sprach (2005) von einer politischen Leitidee, postuliert „ein gemeinsames Fundament von Werten und Überzeugungen“. Und fügt, das Wort „Idee“ faktisch zurücknehmend, sofort hinzu: „Eine solche Idee bezieht sich notwendigerweise auf gemeinsame kulturelle Wurzeln, auf die gemeinsame Geschichte, auf gemeinsame religiöse Traditionen.“ Damit verstärkt er das Merkmal eines fundamentalen Unterschieds, ein Ausweis des Exklusiven, die Ideologie einer Exklusion.
Zuletzt ist das Postulat einer Leitkultur sowohl von der AfD als auch von der CSU als politische Zielvorstellung auf die politische Agenda zurückgeholt worden. Doch die Debatte ist damit nicht bereichert worden. Nach wie vor gibt es zwei Lager. Die einen halten das Vorgeschriebene für unumgänglich und damit auch das Postulat. Die andern sehen darin eine Überwältigung der freien Lebensformen durch einen einengenden Kanon.
Als einen kleinsten gemeinsamen Nenner machen die Kontrahenten, wenn die Debatte mal wieder zu nichts geführt hat, die Verfassung aus. Sie enthalte, so die Meinung der meisten, eigentlich schon längst all das, was da noch polemisch und umständlich und überflüssigerweise gefordert werde, und verpflichte ohnehin schon jetzt alle Bürger des Staates zur Einhaltung.
Doch der Rekurs auf die Verfassung tat seine Wirkung allenfalls, weil er einen verbalen Waffenstillstand geschaffen hat. Den kann man natürlich jederzeit aufkündigen, so wie es die CDU nun tut, nachdem der Begriff ein paar Jahre in der Versenkung verschwunden war. Aber mit welchem Ziel? Denn überblickt man die Diskussion dieses Begriffs, dann löst er keines der Probleme, die sich für Migranten stellen, behindert hingegen mehr Einsichten als er solche fördert. Leitkultur atmet das Gouvermentale in einem Bereich, der eigentlich persönlichen Vorstellungen und Einstellungen vorbehalten bleiben sollte. Er reduziert den Kern einer freien Gesellschaft, der es nicht um Wahrheit, sondern um Vielfalt geht. Dabei setzt das Grundgesetz und vor allem seine Präambel der persönlichen Freiheit eine absolute Grenze.
Wenn man den Begriff schon im Gespräch halten will, dann sollte man Tibis Begriff der europäischen Leitkultur aufgreifen, bei der weder die Nation noch staatliches Handeln den Mittelpunkt bilden, sondern allein der Diskurs.