„Animalia“ im Kino : Wer sind hier die wahren Monster?
Ein friedliches erstes Bild: eine jugendliche Hand im flauschigen Fell eines Hundes, das ein ungebrochenes Vertrauen zwischen Mensch und Tier ausdrückt. Im scharfen Kontrast dazu der gleichzeitig eskalierende Streit zwischen Teenagersohn Émile (Paul Kircher) und François (Romain Duris), einem Vater mit kurzer Zündschnur, der seinem Sohn im Auto einen Vortrag über zivilen Ungehorsam und gesunde Ernährung hält und den dichtenden Résistance-Kämpfer René Char zitiert: „Was nichts in Aufruhr bringt, verdient weder Rücksicht noch Geduld.“
Den Aufruhr kann er wenige Minuten später haben. Er bricht mitten auf der Straße los, hat einen menschlichen Körper, aber auch Klauen und Flügel.
Die menschliche Zivilisation, mitsamt ihrer Teenager und renitenten Eltern, sieht sich einer neuen Form von Mutationen gegenüber. Geliebten Menschen wachsen tierische Gliedmaßen, sie verlieren die Sprache, transformieren zu Chimären. Émile reißt sich vom Fell seines Hundes los, er besucht mit dem Vater die stationär behandelte Mutter. Als sie sich aus der Unschärfe in die Kameraschärfe dreht, schauen wir mit Émile in Raubtieraugen.
Als Regisseur Thomas Cailley 2014 in der Cannes-Nebenreihe Quinzaine seinen ersten Spielfilm „Liebe auf den ersten Schlag“ präsentierte, wurde ein neuer Sound im Genre des Coming-of-Age-Films hörbar. Ein junges Liebespaar breitete sich darin auf das Ende der Welt vor, kündigte seiner Elterngeneration und ihrem maßlosen Ressourcenverbrauch das Vertrauen auf, nahm sein Schicksal selbst in die Hand. Als eine von vielen globalen Gefahren sprechen die Jugendlichen vom Coronavirus.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Zehn Jahre und ein paar Epidemien später kommt endlich der zweite Film von Cailley in die Kinos – und wieder sitzt darin ein Jugendlicher erwachsenen Vertretern von Institutionen gegenüber, die von Gegenmitteln, Bekämpfung, Ausgangssperren reden. Und kann es nicht fassen. Wo sind die Gegenmittel gegen Ebola? Diabetes? Simple Erkältungen? „Animalia“ setzt früh sein Thema einer sanften Generation-Z-Rebellion gegen die martialischen Lösungsvorschläge der Eltern. Aber sein visuelles Material ist völlig spekulativ.
Der Film beginnt als Bodyhorror-Fantasie über monströse Mutationen und apokalyptische Bedrohungen, ganz klassisch in der (hier: südwestfranzösischen) Provinz angelegt. Und mit einer aufregenden Reihung von Schockbildern: ein verwachsenes Gesicht am Bildrand, aus dem eine Eidechsenzunge fährt, eine flüchtende Gestalt im Supermarkt mit Tentakeln, ein vom Blitz erleuchtetes Wesen mit Fischaugen und Kiemen.
Émiles Mutter ist bei einem Krankentransport ausgebrochen, Vater und Sohn suchen sie; am Rand des Waldes rüstet ein Touristenort gegen die „Monstren“ auf, und die örtliche Polizei muss vor dem anrückenden Militär das Feld räumen. Das Verhältnis von Vater und Sohn verändert sich im gemeinsamen, und doch so anders formulierten Widerstand gegen das ausbrechende Jagdfieber.
Émiles Pubertät als Schwebezustand des Kontrollentzugs bildet dabei eine interessante Folie für die Neuordnung der Generationsverbindungen, der Körper und Geschlechter. Doch was „Animalia“ aus diesem genrespezifischen Unordnungen entwickelt, ist alles andere als schematisch durchgeführt und vorhersehbar. Man möchte es hier auch nicht verraten.
Der Witz des Ganzen, soviel sei angedeutet, liegt in einem Perspektivwechsel, der sehr bald den gewalttätigen Umgang mit den Mutationen hinterfragt. Der aus der Antike stammende Begriff der Chimäre (ursprünglich „Ziege“, gemeint waren Figuren, die tierische und menschliche Körpermerkmale vereinen), mit seiner vorurteilsgetriebenen Neudefinition im Verlauf der Aufklärung als „Trugbild“ (als Angriff auf die Wahrheit), erscheint allmählich durchlässiger als das Vokabular der Ordnungskräfte. Bestien, Monster, Kranke: Umschreibungen für das Abnormale, Ausdruck für die Krise der menschgemachten Norm.
Während Émiles Vater seine Institutionenkritik bestätigt sieht und den zivilen Ungehorsam probt, füllt sich der Blick des Teenagers zunehmend mit Zärtlichkeit für die neuen queeren Formen der Mutationen, die weder Tier noch Mensch sind. Und die einen Schutzraum für sich beanspruchen. Der Film hat Humor. Beim Verlernen des Fahrradfahrens, beim allmählichen Wechsel vom Laufen ins Trotten, bei den ersten borstigen Haaren am Rücken kommt etwa die bange Frage auf: Geht es Richtung Wolf oder Dackel?
Die wichtigere ist allerdings die nach den Veränderungen in den Beziehungen zwischen den transformierenden Lebensformen. „Animalia“ entwirft auf berührende Weise eine überraschende Koexistenz-Fantasie mit komplexen Trugbildern und stellt dabei auf sanfte Weise neue, radikale Fragen über das Zusammenleben nach dem Rücktritt des Menschen. Ganz andere als René Char: Vielleicht verdient das, was uns in Aufruhr bringt, eben nicht eine neue Klassifikation, sondern Rücksicht und Geduld.