Hamlet auf dem Traumschiff
Seine schwerste Rolle, wenn man das bei einem so vielfältigen, bis ins hohe Alter aktiven Schauspieler überhaupt sagen kann, spielte er 1984 an der Freien Volksbühne Berlin in Joshua Sobols „Ghetto“. Das Stück des israelischen Dramatikers erregte großes Aufsehen damals: Michael Degen war in Peter Zadeks Inszenierung der jüdische Verbindungsmann, der mit den Nazi-Aufsehern im Lager verhandelte und über Leben und Tod mit entschied.
Sein junger Widerpart war Ulrich Tukur, dessen Karriere hier begann. 1969 hatte Michael Degen an den Staatlichen Schauspielbühnen Berlin im Ensemble eines noch radikaleren Stücks gestanden: George Taboris „Kannibalen“. Auschwitz zum ersten Mal nicht dokumentarisch auf einer deutschen Bühne.
Zwei Jahre nach seinem „Ghetto“-Auftritt erhielt er Morddrohungen, Unbekannte verwüsteten sein Heim. Michael Degen hatte öffentlich gegen ein Veteranentreffen der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ protestiert. 1987 spielte er in „Die Kolonie“ einen Vater, der nach Chile reist, um seine Tochter aus einer Nazi-Sekte herauszuholen. Die braune Barbarei hat ihn nie losgelassen.
Michael Degen besaß einen israelischen Pass
Nicht nur das Leben, auch die Schauspielerei kennt harte Schnitte. Wer in der Pandemie durch die Fernsehprogramme zappte, stieß immer mal wieder – und gern – auf die Donna-Leon-Wiederholungen des Commissario Brunetti mit dem schusseligen Vize-Questore, den Michael Degen mit einem Anflug von Trauer in seiner dauerkomischen Rolle gab.
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Im Theater war er Shakespeares Hamlet, im TV gehörte er zu „Diesen Drombuschs“, gelegentlich ein „Tatort“. Eine gewaltige Spannbreite – von ersten Engagements nach dem Zweiten Weltkrieg am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater bis zur Zusammenarbeit mit Ingmar Bergman. Als Anfänger bei Bertolt Brecht am Schiffbauerdamm – und später als obercharmanter Passagier auf dem „Traumschiff“.
In einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ sagte er, er habe vier Kinder zu ernähren gehabt, da spielt man auch mal „Schrott“. Michael Degen besaß einen israelischen Pass, arbeitete zwei Jahre in Tel Aviv: „Obwohl ich in Israel Klassiker wie Shakespeare oder Molière gespielt habe – alles auf Hebräisch – hatte ich große Sehnsucht danach, wieder einmal in deutscher Sprache auf der Bühne zu stehen.“ Er blieb.
Er reflektierte sein Metier in „Der traurige Prinz“
Geboren 1932 in Chemnitz, aufgewachsen in Berlin, in der jüdischen Schule, überlebte Michael Degen den Krieg mit seiner Mutter in einer Laubenkolonie in Kaulsdorf. Der Vater, im Konzentrationslager Sachsenhausen gefoltert, starb 1940. Immer wieder schreiben Schauspieler Bücher, meist biografisch. Degens Erzählungen sind herausragende Zeitzeugengeschichten. „Nicht alle waren Mörder“ (1999) war ein Bestseller, darin beschrieb er seine Kindheit im Untergrund.
Schauspieler reflektieren häufig ihr Metier. Selten gelingt es so gut wie in „Der traurige Prinz“ (2015). Michael Degen nähert sich einem Idol, dem Wiener Superstar Oskar Werner. Seit den Sechzigern auch eine internationale Filmgröße, schüttet Werner den jüngeren Kollegen eine Nacht lang mit Selbstmitleid und Alkohol zu. Werner, schon ein Wrack, kann den Jüngeren tief berühren, aber nicht erschüttern in seiner Lebenskraft.
Degens literarisches Selbstportrait harmonisiert mit der Außenwahrnehmung: ein stiller Kämpfer voll Würde und Ironie, ein feiner Mensch. Kurz nach seinem 90. Geburtstag ist Michael Degen jetzt in Hamburg gestorben.