Die Welt in den Armen
Man muss das als Statement verstehen. Drei Tage nach Erscheinen eines neuen Albums reißt sich Bilderbuch die Berliner Philharmonie unter den Nagel, den Kulturtempel par excellence, um ihn mit seinem schillernden Love-Pop zu fluten. Davor war die österreichische Band in der Elbphilharmonie und in der Isarphilharmonie zu Gast. Wer, wenn nicht sie, die vielen als coolste Band der Gegenwart gilt, hätte Anspruch auf die Weihen der Hochkultur?
Doch was auf dem Papier und für die Erinnerung ein gelungener Coup ist, ist es nicht für die Ohren. Dem exquisiten Konzertsaal des Scharoun-Baus tun elektrisch verstärkte Lärmquellen nicht gut. Der kompakte Bilderbuch-Sound zerfasert und verschwimmt. Eine klangliche Verzerrung, die allerdings der einzige Wehrmutstropfen ist, den man an diesem Montagabend zu schlucken hat.
“Liebe is the place to be”
Denn alles in allem bringen Sänger Maurice Ernst, Gitarrist Michael Krammer, Peter Horazdovsky und Phlipp Scheibl an Bass und Schlagzeug sehr gut zum Ausdruck, worum es ihnen bei ihrem siebten Album „Gelb ist das Feld“ geht. Es markiert eine Wende. Vom Lifestyle-Schleudergang, mit dem Bilderbuch die „digitale Tristesse“ bislang trockengelegt haben, hat sich die Band endgültig gelöst. Liebe ist zu ihrem zentralen Thema geworden. „Wenn ich schon sterbe“, heißt es einmal, „dann an einer Love overdose“.
Dazu muss man wissen, dass sich die Musiker nach einer extrem produktiven Phase, in der vier Alben in fünf Jahren entstanden, 2019 erschöpft aus der Öffentlichkeit zurückzogen und auf Reisen gingen. Während Corona sowieso alles auf Null setzte, weilten sie in Südamerika, um in einer Hütte am See herauszufinden, was sie interessieren würde. Tatsächlich hatte sie ja ihr scharfzüngiges Pop-Konstrukt zwischen Prince-Groove und Falco-Jargon in eine Sackgasse geführt. Sie würden nicht ewig über Ladekabel und LED-Leuchten singen und das Leben als Party-Zone verklären können. „Liebe is the place to be“, orakelte Maurice Ernst denn auch schon auf dem Vorgängeralbum „Vernissage My Heart“.
Eine Sehnsucht jenseits von Likes und Dates
Dass sie nun einen Schwenk zu mehr Sensibilität vollzogen haben, hat ihnen sogleich den „Schlager“-Vorwurf eingetragen. Als müsste man jemandem wie Ernst erklären, was Kitsch ist, der es doch selbst seit langem vorexerziert: „Ich war nie rich / aber cool mit Kitsch“, heißt es in einer Single von 2019.
Solche Zuschreibungen führen indes nicht weiter, weiß er heute. Weshalb sich die Band nun mit Inbrunst dem hippiesken Fantasma erotischer Verschmelzung verschreibt. „Ich umarme die Welt“, lautet eine Schlüsselzeile in „For Rent“, einem neuen Song über die scheußliche Vergänglichkeit menschlicher Beziehungen, gegen die Bilderbuch das Mantra einer Sehnsucht setzen, die sich jenseits von Dates und Posts und Likes erfüllt. „Ich verteidige dich gegen Internet“, singt Maurice Ernst über den Wert, den Liebe haben soll.
Das führt auch musikalisch zu einer Neuausrichtung. Waren die besten Songs auf früheren Alben stets Beat-Monster wie „Maschin“, „Spliff“ oder „Bungalow“, sind Höhepunkte nun zu finden in der wehmütigen Soul-Nummer „Auf und Ab“, dem kristallinen Frost-Pop von „Nahuel Huapi“, benannt nach einem Gebirgssee in Patagonien, in dem Ernst nackt badend erkannte, dass auch die Welt ihn umarmt.
Diese Glückseligkeit ist an eine Generation gewandt, die zunehmend leidet an der sozialen Distanz digitaler Netzwerke – voneinander „zu weit entfernt / um nah zu sein“, wie Ernst diagnostiziert. Bilderbuch löst das Unbehagen in Chören und seligen Sixties-Melodien auf, zieht es in die Breite, statt es wie früher anzuspitzen. Statt Wums nun Samt. Der Bilderbuch-Sound der Post-Corona-Depression mag deshalb nicht mehr so mitreißend sein wie die gespreizte Funkyness des Austria-Schick, aber er will ein Lebensgefühl vertiefen, über das man sich weder ironisch noch zynisch erheben können soll.
Was die Liebe mit sich bringt
Umarmung. Es gibt wohl kaum einen Ort, der sich so gut für eine solche symbolische Geste eignet wie Schrouns Philharmonie, in der die Musiker auf allen Seiten von Publikum umgeben sind. Ernst und Krammer genießen das sichtbar. Beide agieren auf der Bühne in bestickten transparenten Leibchen, Rosa und Lila sind dominante Akzente. Wobei die Band, unterstützt von zwei Session-Musikern, sehr präzise zu Werke geht und sich in Rocknummern auf die Strahlkraft von „Snacky Mike“ 70er-Jahre-Soli verlassen kann. Es gibt wirklich keinen anderen Gitarristen seiner Generation, der so virtuos sämtliche Register des Classic Rock zieht, ohne je auch nur einen Hauch von dessen Geilheit spüren zu lassen. Seine filigrane Erscheinung schwebt so mühelos und äußerlich ungerührt durch den Abend, dass Sänger Ernst viel Raum hat, sich in die Posen eines Exzentrikers zu stürzen (der er eigentlich nicht ist). Er stößt sogar den Mikrophonständer um, was für eine Ungeheuerlichkeit in diesem Haus.
Bis auf wenige Ausnahmen wird das neue Album komplett präsentiert, eingestreut sind Hits aus früheren Perioden. Auch die sind wie „Europa 22“ auffallend deutlich auf Stimmung reduziert. Mag diese Band schon immer sehr produktiv gewesen sein, es scheint ihr vor allem um den Erhalt ihrer Produktivität zu gehen. Dafür und um nicht belanglos zu werden, muss sie sich weiter vorarbeiten in die existenziellen Nöte des in gefühllosen Attraktionen gefangenen Daseins des Homo Smartphone. Stoff gibt es genug, das bringt die Liebe mit sich.