Abenteuer haben zwei Seiten
Katharina Hacker mutet ihren jungen Leserinnen und Lesern zunächst einiges zu. Im ersten Kapitel deutet die Schriftstellerin an, dass es sich mit ihrem Jugendbuch „Alles, was passieren wird“ um einen Pferderoman handeln könnte, allerdings nicht um einen konventionellen, verkitscht-heiteren, die Liebe zu den Tieren in den Vordergrund stellenden Freundschaftsroman, sondern einen enorm beschwerten.
Wie sagt es ihre dreizehn Jahre alte Heldin und Ich-Erzählerin Iris, deren Mutter gestorben ist: „Dass sie gesund werden würde, glaubte ich keine Sekunde lang. Dass sie sterben würde, glaubte ich aber auch nicht. Stattdessen dachte ich, es wären die schlimmsten Zeiten meines Lebens. Ein Irrtum.“
Man denkt hier beim ersten schnellen Lesen, der armen Iris widerfahre noch Schlimmeres. Doch ist dem zum Glück nicht so, der „Irrtum“ ist positiv konnotiert. Auch der befürchtete Pferderoman ist eher in Spuren einer.
Denn zu noch viel wichtigeren Protagonisten entwickeln sich zwei Irish Terrier, die Iris gewissermaßen unter ihre Fittiche nimmt und die gesamte Geschichte mit ihren vielen wirbeligen Auftritten fast zu einem Hunderoman machen.
Doch zurück auf Anfang: Am Martinstag läuft Iris bei einem Umzug die Schimmelstute Belle über den Weg, und nachdem diese wegen eines Knalls sich aufbäumt und wild durch die Straßen zu laufen droht, schafft Iris es, sie zu beruhigen und bekommt dafür von dem Besitzer des Pferds die Einladung zu einer Reitstunde draußen auf dem Land. Auf diese kommt sie schnell zurück, aber anders als gedacht.
Hacker ist nahe an der Gedankenwelt pubertierender Mädchen
Denn nicht nur ihr geht es wegen des Tods ihrer Mutter, Problemen mit dem Vater und schwieriger finanzieller Verhältnisse gerade nicht gut – auch ihre beste Freundin Lisa hat Schwierigkeiten: Die besagten Irish Terrier, mal Waswolf und Werwolf genannt, mal Alistair und Ivanhoe, gehören ihr, ihrer Familie und sollen in ein Tierheim. Iris kommt auf den Gedanken, die Hunde quasi zu entführen und in Sicherheit zu bringen, erst im Turm ihres Gymnasiums, schließlich auf eben jenem Reiterhof.
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Katharina Hacker, eine der profiliertesten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – 2006 bekam sie für ihren Roman „Die Habenichtse“ den Deutschen Buchpreis – spart in ihrem ersten Jugendbuch nicht mit Einfällen und Volten. Dabei spürt man, wie nahe Hacker an der komplexen Gedankenwelt eines pubertierenden Mädchens ist. Noch Kind hier und Tieren tatsächlich sehr zugewandt, muss Iris dort ihren schweren Schicksalsschlag verarbeiten und tariert die Beziehungen zu ihrem Umfeld immer wieder neu aus.
In der Stute sieht sie bisweilen eine Wiedergängerin ihrer Mutter, um mit dieser festzustellen, dass es genauso viele Gründe gibt, die Menschen „miserabel“ zu finden, wie sich an ihnen zu freuen: „Letzteres wäre einfach besser und würde glücklicher machen.“
[Katharina Hacker: Alles, was passieren wird, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021. 256 Seiten, 13 Euro. Ab 12 Jahre]
Dieses Glück wird Iris mehrmals beschieden, durch die Zuneigung ihrer Mitschüler:innen Lukas und Seteney, durch verständnisvolle, mithin spendable Erwachsene. Hacker beobachtet genau, hält mit ihrer anschmiegsamen Prosa schön die Balance zwischen Iris’ Introspektionen und der laufenden Handlung in Berlin und auf dem Reiterhof; selbst über die Zeit lässt sie ihre Erzählerin philosophieren.
Manchmal entsteht zwar der Eindruck, die Welt, die Hacker beschreibt, ist eine arg ideale, eine „zu und zu schöne“, um es mit der Kempowski-Mutter zu sagen. Die Kinder tummeln sich auf den Friday-For-Future-Demos, hassen SUVs vor der Schule oder beschränken ihren Umgang mit Smartphones auf den Austausch wichtiger Nachrichten. Doch der Lesbarkeit und Güte dieses vielschichtigen, gedankenreichen Jugendromans tut das keinen Abbruch – genau so wenig wie die Pferde darin.