Ukrainisches Kriegstagebuch (124): Wasil trägt jetzt auch eine Uniform
7. April 2023
Nach über drei Jahrzehnten und Hunderten von Shows, die ich erleben durfte, erinnere ich mich immer noch lebhaft an den Auftritt der Charkiwer Band Ku-Ku im Jahre 1991 beim Memorial Festival. Alle Künstler*innen hätten an diesem Abend einem verstorbenen Musikerkollegen eine Hommage erweisen sollen – bei Ku-Ku war es Bob Marley und am Ende ihres Sets lieferten sie eine Version von „No Woman, No Cry“; ich bekomme noch heute eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Für die Charkiwer Szene der frühen Neunziger war Ku-Ku zu eklektisch, zu ironisch, zu tanzbar. Allein schon ihre Besetzung war ungewöhnlich – ein Knopfakkordeon, eine weibliche Bläsersektion, ein musikalischer Zirkus, der nicht auf jede Bühne passte. Ku-Ku rockte die Halle und mir wurde mit meinen 16 Jahren klar, dass ich mir nichts mehr wünschte, als für Menschen Musik zu spielen und sie zum Tanzen zu bringen.
Papa Karlos neues Lied heißt „Charkiw Stahlbeton“
1992 emigrierte Zheka Koshmar, der charismatische Sänger von Ku-Ku, in die USA. Es wurde gemunkelt, dass er in New York Taxi fuhr und in seinem Loft in Brooklyn legendäre Partys schmiss. Ich lebte schon lange in Berlin, als ich hörte, Koshmar sei nach Charkiw zurückgekehrt. Bei der ersten Studioaufnahme meiner Band RotFront haben wir einen alten Song von Ku-Ku gecovert. Ich fand Koshmars Mailadresse und schickte ihm das MP3, er meldete sich zurück und schrieb etwas Nettes. So haben wir uns kennengelernt.
Bei meinen Charkiw-Besuchen stießen wir oft aufeinander, ein paar Mal tranken wir Kaffee und tauschten uns über Musik und gemeinsame Freunde aus. Zheka hatte nun eine neue Besetzung von Ku-Ku und tauchte manchmal bei den Projekten anderer Charkiwer Musiker auf – zum Beispiel bei der etwas albernen Ode an die Heimatstadt von der Band Papa Karlo. Im Video tanzte er wild mit den Bandmitgliedern und Serhij Zhadan auf dem Dach vom Derschprom, einem Meisterwerk des Konstruktivismus.
Vor wenigen Wochen habe ich mir diesen Song wieder angehört, weil ich vor hatte, eine Stelle daraus für einen Remix zu samplen – und zwar für Papa Karlos neues Lied „Charkiw Stahlbeton“.
Zu meinem Remix plante Wasil von Papa Karlo ein ambitioniertes Video mit einem Flashmob, bei dem Freunde der Band aus verschiedenen Ecken der Welt mitmachen sollten. Ich fuhr nach Steglitz, um mich dort im Charkiw Park filmen zu lassen. „Wir ließen uns einen kleinen Tanz einfallen, nur ein paar Bewegungen, vielleicht könntest du sie auch nachmachen“, schrieb er und schickte mir einen kurzen Clip, bei dem zwei Männer in Militäruniform mit ihren Maschinengewehren tanzten.
Wie viele Menschen triggert die russische Sprache heute?
Am Anfang fällt es den beiden noch schwer, sich synchron zu bewegen, doch dann klappt es ganz gut. „Der rechts ist übrigens Anton, er spielt bei Alcohol Ukulele, vielleicht kennt Ihr euch”, schrieb Wasil dazu. „Nein, Anton kenne ich nicht, aber seine Band schon”, antwortete ich. (Auch Alik, der ehemalige Bassist von Ku-Ku, macht da mit.) Ihre Musik und das Motto „Je mehr ihr trinkt, desto besser klingen wir“ fand ich schon immer toll.
Um in Charkiw-Stimmung zu kommen, habe ich mir in der U-Bahn das neue Album von Ku-Ku angehört, das Koshmar mir kurz zuvor geschickt hatte. Anfang Februar 2022 war er damit fertig geworden, aber es jetzt zu veröffentlichen, sei schwierig, meinte er. Ich stellte fest, dass ich die meisten Stücke bereits von früher kenne, mit den neuen Musikern klingen sie aber irgendwie erwachsener. Die Lieder sind jedoch alle auf russisch… Wird in absehbarer Zukunft eine Zeit kommen, wo das die Ukrainer*innen nicht triggern würde, fragte ich mich – und fand keine Antwort darauf.
Vorgestern bekam ich eine Nachricht vom Gründer von Alcohol Ukulele Yurek: „Verdammte Scheiße, ich kann es einfach nicht fassen, Anton ist tot.“ Innerhalb weniger Stunden postete Wasil das Video von Antons Tanz auf seiner Facebook-Seite. „Ruhe in Frieden, Anton“, schrieb er. „Musiker, Bildhauer, freundlicher, positiver Mensch. Deinen Tod werden wir nie vergessen und nie verzeihen! Übrigens, ich diene jetzt auch in Antons Brigade.“ Und erst dann fiel mir auf, dass Wasil auf dem neuesten Facebook-Foto eine Militäruniform trägt.
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