Toni Morrisons Erzählung „Rezitativ“: Wie Rassismus funktioniert – und wie es anders gehen könnte
Es geht um zwei Kinder mit seltsamen Müttern. Die von Twyla „tanzte die ganze Nacht“ und läuft in einer löchrigen Jacke herum, zum Leidwesen ihrer Tochter; die von Roberta ist bibelfest und „krank“. Was da genau ist, mit diesen Müttern und Töchtern, warum Letztere im Fürsorgeheim St. Bonaventure landen, das erfahren wir nicht – und vor allem nicht, wer sie genau sind. Ein „Mädchen von ganz anderer Hautfarbe“ sei Mary, erzählt Twyla über ihre Zimmergenossin. Von welcher Hautfarbe?
Es ist das leere Zentrum, der missing link, um den dieser kurze Text kreist: Wer ist Schwarz, wer ist weiß? Wer steht auf welcher Seite? „Rezitativ“ ist die einzige Erzählung der 2019 verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, die sonst vor allem Romane schrieb. Zuerst 1983 erschienen, wurde die Geschichte kürzlich in den USA in einer eigenen Ausgabe veröffentlicht, nun erstmals auch auf Deutsch. Sie wirft nichts weniger auf als die Frage, wie rassistische Kategorien funktionieren, was man dafür braucht – und wie es anders gehen könnte.
Ästhetische Beschreibungen dienen gemeinhin dazu, anhand von beispielhaften Merkmalen den Platz deutlich zu machen, den jemand in den Hierarchien der Gesellschaft einnimmt. Wer eine löchrige Jacke trägt, ist wahrscheinlich arm. Wer, wie die Figur Roberta zu einem späteren Zeitpunkt, in „einem Viertel voller Ärzte und IBM-Führungskräfte“ wohnt und sich von einem Chauffeur fahren lässt, wahrscheinlich reich.
Moment der Solidarität
Auch Kinder kennen diese Hierarchien schon ganz genau. Twyla vermutet voller Ärger, dass die „richtigen Waisen mit lieben, verstorbenen Eltern“ mehr Mitleid erregen als sie selbst. Zugleich macht sie sich über Schwächere lustig, über „alte Schachteln“ und „Schwuchteln“, die Kinder zum Adoptieren suchen, über die stumme Küchenhilfe Maggie, die „beim Gehen wackelte“ und sich gegen die Beschimpfungen der Mädchen nicht wehren kann.
Doch gerade an der entscheidenden Unterteilung, an der sich die Freundschaft der beiden Mädchen über die folgenden Jahrzehnte entzündet, versagt in Morrisons Erzählung der Mechanismus des Beispiels. Robertas Mutter bringt, anders als Twylas, ein üppiges Mittagessen ins Heim mit, Hähnchenschenkel und Schinkensandwiches, „eine ganze Packung Graham-Kekse mit Schokolade“. Ist sie darum Schwarz oder weiß? Die Autorin Zadie Smith listet in einem lesenswerten Essay am Ende des Bandes eine ganze Reihe solcher auflösbaren Uneindeutigkeiten auf.
Twyla und Roberta werden selbst Mütter, demonstrieren immer wieder vor der „Schule, in der schwarze und weiße Kinder gemeinsam lernen sollten“. Aber wer für was? Wer für gemischte Klassen, wer für das Fortdauern der Segregation?
Jede Assoziationskette, über die die Leserin eine Bestätigung der Andeutungen sucht, die der Text entstehen lässt, versickert in der vor Wahrnehmungen, Codes und Produkten, vor „wilden“ Haaren und Klondike-Eisriegeln, vor Kartoffelbrei und Einkaufscoupons überbordenden Welt eines harmonisch sein sollenden, aber zutiefst umkämpften amerikanischen Alltags. „Immer landet das falsche Essen bei den falschen Leuten“, heißt es prägnant.
Der Text erhärtet darum nicht das in jüngster Zeit wieder kursierende Phantasma der Farbenblindheit qua Willensentscheidung; die Behauptung, dass, wer zu viel über Rassismus spreche, dessen künstliche Teilung der Welt noch verschärfe. „Rezitativ“ zeigt vielmehr auf, wie mächtig diese Teilung ist, wie sie ständig nach Deutung verlangt. Und wie ihre Macht überwunden werden kann – zumindest kurz, zumindest manchmal.
In der stillen Weigerung, einander auszufragen, die Anspielungen ins Eindeutige aufzulösen, erkennt Twyla ein Moment der Solidarität. „Das Schweigen vermessen“ nannte das die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak an anderer Stelle einmal. In „Rezitativ“ klingt das so: „In dieser Zurückhaltung lag eine Höflichkeit und auch etwas Großzügiges. Ist deine Mutter auch krank? Nein, sie tanzt nur die ganze Nacht. Ach so – und dazu ein verständnisvolles Nicken.“ Morrison schult ihre Leserinnen in der Kunst des Nickens.
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