Steinstücken: Seelenlandschaft zwischen den Weltmächten
Steinstücken, der südlichste Teil Berlins. Bis zur Wende war dieser Wurmfortsatz von Wannsee ein winziges Stück Amerikanischer Sektor inmitten der Sowjetischen Besatzungszone – die einzige dauerhaft bewohnte Exklave der eingemauerten Stadt. Der Dichter Rolf Haufs flüchtete sich 1960, im Alter von 25 Jahren, aus dem Rheinland zur Untermiete in die Siedlung.
Von außen betrachtet, kam er vom Regen in die Traufe. Denn an die Stelle der inneren Enge, die ihn in seiner Heimatstadt Rheydt, dem Geburtsort von Joseph Goebbels, erstickte, trat eine äußere. Dennoch fand er in der Tristesse von Steinstücken, das seinem ersten, durch zahllose Textstufen und Verwandlungen gegangenen Romanmanuskript den Titel gab, eine Seelenlandschaft, die ihn für eine Weile hielt – und, wie mehrere Gedichte beweisen, anhaltend faszinierte.
Das neun Jahre nach seinem Tod 2013 nun mit einem instruktiven Nachwort seiner Witwe, der Schriftstellerin Kerstin Hensel, erstmals erschienene Buch lebt von einer atmosphärischen Düsternis, die das Geschehen fast verschluckt.
Auch die Seiten sind vielfach absatzlos und eng bedruckt: ein finsterer Tann von Sätzen, die sich durch das Prinzip der Aufzählung und Reihung fortspinnen. Die Protagonisten, allen voran Georg, das Alter Ego des Autors, sind mit Namen wie Gollasch, Merz und Faßbinder behängte Figuren ohne Innenleben: Agenten im Dienst undurchsichtiger Mächte, zwischen denen Georg, der einmal – wie der wirkliche Rolf Haufs – sogar verhaftet wird, zerrieben zu werden droht.
„Was war schließlich Steinstücken“, heißt es einmal. „Zunächst ein schöner Allerweltsname aus zwölf Buchstaben, schön wie Bergstücken, schön wie Steinbrücken, mit einem gackernden Frühjahr, mit heißen, wolkenlosen Sommertagen, einem wehmütigen Winter und mit einem Herbst, der so groß war, als sei er das Herz der Welt. Und Herbst war es, als Steinstücken in den Sog der Weltpolitik geriet, fast ein Jahr nach Georgs Ankunft, ein Dreivierteljahr, nachdem Gollasch entkommen und Faßbinder für ihn in den Keller gegangen war. Über zwei Wochen lang blieb Steinstücken damals umstellt, die Kontrollen wurden verschärft, kein Auto kam durch, das nicht durchsucht worden war.“
Äußerster Realismus und Allegorisierung gehen in diesem Buch eines 25-Jährigen, der vielleicht nicht erzählen, aber glänzend beobachten und schreiben konnte, Hand in Hand: Der General, der hier in einem insektoiden „Ding“ einfliegt, ist niemand anderes als der ehemalige Westberliner Militärgouverneur Lucius Dubignon Clay.
Michael Krüger, mit der Szenerie vertraut, weil er in Wannsee aufwuchs, erkannte in Steinstücken schon zum 60. Geburtstag seines Dichterfreunds so etwas wie eine magische Bezeichnung: „Ich muss gestehen, dass mir diese Bezeichnung für den Wohnort eines Dichters ideal vorkam. Er war der einzige Dichter in seiner Exklave, der Dichterkönig von Steinstücken.“ Hier ist die postume Bekräftigung.
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